SPD-Bashing und der Weg in die schwarz-braune Republik
Häme über den Absturz der strauchelnden Genossen ist menschlich verständlich, aber sie ist kontraproduktiv. In einem Deutschland ohne Sozialdemokratie droht weit Schlimmeres. Schulz, Gabriel, Nahles – sie sind zu beliebten Spottobjekten der Presse geworden. Die Sozialdemokratie sei am Ende; nachdem es keine „klassische Arbeiterschaft“ mehr gebe, sei sie ohnehin überflüssig geworden. Auf die am Boden liegenden treten auch radikalere „Linke“ von der anderen Seite her lustvoll ein. Sie sehen den Untergang der SPD als verdiente Strafe für begangenen Klassenverrat. Der Schuss, den wir gegen die ungeliebten Sozis abfeuern, könnte jedoch nach hinten losgehen. Was in einem Deutschland ohne Sozialdemokratie bevorstünde, wäre der Endsieg der konservativen, autoritären und marktradikalen Kräfte – eine immerwährende schwarze Herrschaft, nur aufgelockert durch gelegentliche Beimischungen von Gelb und Braun. Wollen wir das? Wenn nicht, wird es Zeit, mit der in einem Gärungsprozess befindlichen SPD wieder etwas konstruktiver umzugehen. (Roland Rottenfußer)
„Nach den Morden des NSU dürfen wir den rassistisch motivierten Terror von rechts nicht noch einmal unterschätzen. Deshalb muss auch das allzu verständnisvolle Gerede über besorgte Bürger, deren Ängste man ernst nehmen müsse, endlich ein Ende haben.“
Kennen Sie dieses Zitat? Es stammt von Andrea Nahles, der designierten SPD-Chefin. Nichts dagegen zu sagen, oder? Vermutlich haben Sie aber während der SPD-Chaostage in den letzten Wochen nichts davon gehört. Dagegen sind Ihnen sicher dutzende Male von der Presse folgende Zitate von Frau Nahles zugetragen worden: „Bätschi“, „Auf die Fresse“ und „Die zeigen uns doch den Vogel!“ Außerdem wird Ihnen nicht entgangen sein, dass die SPD-Politikerin im Bundestag das Titellied von „Pippi Langstrumpf“ intoniert hat.
Es ist klar, welcher Eindruck der Bevölkerung von den Medien auf diese Weise vermittelt werden soll: Die künftig führende Politikerin der SPD ist nicht seriös, eher ein bisschen infantil. Man kann ihr keine Partei, schon gar nicht das ganze Land anvertrauen. Dabei wird verschwiegen, dass Nahles im selben Zeitraum vielleicht tausende von durchaus sinnvollen Aussagen getroffen hat – mögen sie auch nicht unserer eigenen politischen Meinung entsprechen.
Ich bin kein großer Freund der SPD. Sie ist zu systemangepasst, zu lau, zu wenig sozialdemokratisch in der eigentlichen Bedeutung des Wortes. Ja, die SPD hat Verrat an ihrem Klientel, dem kleinen Mann/der kleinen Frau, den abhängig und prekär Beschäftigten, den Arbeitslosen und Armen begangen: vor allem mit Hartz IV, Schröders schäbigem Menschenverelendungsprogramm. Die SPD müsste in sich gehen, bereuen und die Kraft zu einem ganz anderen politischen Kurs finden – dem Gegenwind der neoliberalen Kulturdominanz trotzend. Was die „etablierten“ Medien derzeit machen, zielt jedoch nicht auf eine bessere SPD ab; das Ziel der Kampagne ist vielmehr, dass es künftig überhaupt keine SPD mehr in Deutschland gibt. Jedenfalls keine, die entscheidenden Einfluss auf die Politik nehmen könnte.
Schulz, der Prügelknabe der Nation
SPD-Politiker haben in jüngster Zeit eine Reihe von „handwerklichen“ Fehlern gemacht, und einige dieser Fehler untergruben auch ihre Glaubwürdigkeit. Die Medien allerdings gingen auch betont ungnädig mit diesen Fehlern um, während gleichzeitig ein paar eher blasse CDU-Politiker systematisch zu Lichtgestalten hoch geschrieben wurden: vor allem Annegret Kramp-Karrenbauer und Jens Spahn.
Beispiel Martin Schulz. Der Ex-Hoffnungsträger der SPD hat gleich zweimal etwas versprochen, was sich später als unhaltbar erwies: Er werde keine neue GroKo mit der Union bilden und er werde keinesfalls in eine Regierung Merkel eintreten. Ich sehe die Ursache hierfür vor allem in dem absurden Druck, unter dem sich Kanzlerkandidaten vor der Wahl befinden. Im Sinne eines platten „positiven Denkens“ und neoliberalen Mentaltrainings meinen Sie, stets absolute Siegesgewissheit verströmen zu müssen – so realitätsfremd diese auch sein mag: „Ich bin angetreten, um Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland zu werden“, rief Schulz im Wahlkampf mit markiger Stimme. Subtext: „Über so etwas wie eine Niederlage oder eine Regierungsbeteiligung als Juniorpartner denke ich nicht mal nach. Defätismus schwächt nur meine Motivation und die meiner Anhänger. Was wir uns nur penetrant genug suggerieren, wird auch geschehen.“
Das Ergebnis: Schulz machte seine SPD schon im Vorfeld durch peinliche Selbstüberschätzung unglaubwürdig. Und er manövrierte sich unnötig in eine Falle, die nach der Wahl dann unter hämischen Kommentaren von Presse und politischen Gegnern zuschnappte. Besser wäre es gewesen, zu sagen: „Es könnten Umstände eintreten, die uns zwingen, in eine Regierung einzutreten, auch wenn wir das nicht gern täten.“ Schulz traute sich das nicht zu sagen. Ein durchsichtiges Manöver des verantwortungsscheuen FDP-Yuppies Christian Lindner brachte ihn unter Zugzwang. Die Medien nutzten nun die Chance, dem ohnehin schon sturmreif geschossenen Schmerzensmann der SPD den Rest zu geben.
Halbherziger „Linksruck“: Todsünde der SPD
Schulz hatte einen Fehler gemacht und sich als unzuverlässig erwiesen. Aber das haben andere Politiker auch. Wie oft haben Politiker schon gelogen, ohne dass ein vernichtendes Presse-Gewitter über sie hereinbrach! Man denke dabei nur an die Versprechen von Merkel und Gabriel, den Waffenhandel künftig stärker zu kontrollieren. In Wahrheit haben die Waffenverkäufe während der dritten Amtsperiode Merkels wieder zugenommen. Fast alle Medien waren sich jedoch in den letzten Wochen einig, dass Schulz – und nur Schulz – moralisch bankrott sei. Trotz einschlägiger Erfahrungen als Außenpolitiker im EU-Parlament dürfe er keinesfalls den Posten des Außenministers ausfüllen. Schon Monate zuvor stichelte die Presse, Schulz werde sich nicht halten können und redete einen Parteiaufstand gegen den Politiker herbei, der in der Summe gewiss nicht schlechter war als die meisten seiner Vorgänger und mutmaßlichen Nachfolger.
Könnte es sein, dass Schulz aus einem anderen Grund niedergeschrieben wurde? Des Rätsels Lösung findet sich zu Beginn des „Schulz-Wunders“ Anfang 2017. Der neue Kanzlerkandidat blinkte damals massiv links – zwar nicht mit der eigentlich erforderlichen Radikalität, aber offenbar doch radikaler, als es dem neoliberalen Machtblock recht sein konnte.
Schulz sprach sich dafür aus, die unter Schröder installierte Agenda 2010 in Teilen zu revidieren. Unter dem Begriff „Arbeitslosengeld Q“ wollte er die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes verlängern, den Eintritt in Hartz IV für viele Bürger also zumindest verzögern. Er wollte – was später auch Teil der Koalitionsverhandlungen war – die sachgrundlose Befristung von Arbeitsverhältnissen abschaffen und noch einiges mehr.
Es gab damals eine Welle von Neueintritten in die SPD – über 14.000 in zwei Monaten. Schon das aus meiner Sicht eher klägliche Flämmchen eines möglichen „Linksrucks“ entzündete in vielen Wählern eine Hoffnung, die lange verschüttet war. Nicht Schulz war es, der in den danach folgenden Monaten „nachgelassen“ hatte, die Presse ließ ihn fallen und begann ihn niederzuschreiben. Die nächsten Landtagswahlen fielen für die SPD desaströs aus, die Umfragewerte purzelten. Schützenhilfe bekamen die eingebetteten neoliberalen Medien dabei von links, denn verständlicherweise wurde von dieser Seite kritisiert, dass der Linksruck von der SPD nicht konsequent genug vollzogen worden sei. Der Schulz-Auftritt beim Kanzlerduell sei eher anschmiegsam als konfrontativ verlaufen.
Klammheimliche Schadenfreude der radikalen Linken
Der nun folgende Absturz der SPD auf AfD-Niveau, das „Projekt 18 minus“, das die Presselandschaft und viele Alt-Sozialdemokraten erschütterte, entsprach in gewisser Weise dem Traum vieler Linken, die „alte Tante SPD“ möge für ihren erbärmlichen Verrat – siehe Hartz IV – endlich gebührend abgestraft werden. Sind Verräter nicht schlimmer als „ehrliche Feinde“, verdienen sie nicht unseren zähen, vernichtenden Hass? Viele empfinden so. Aber ich gebe eines zu bedenken: Das Ende der Sozialdemokratie, wie wir sie in über 150 Jahren der Geschichte gekannt haben, wäre ein sehr gefährlicher „Triumph“. Es käme nicht unbedingt etwas Besseres nach.
Wir steuern derzeit von einer „bipolaren“ politischen Landschaft, bei der sich CDU- und SPD-Kanzler in gewissen Abständen ablösen, auf eine unipolare Ordnung zu, bei der wir über Jahrzehnte nur noch von der Union, als bei weitem stärkste politische Kraft, regiert werden.
„Rot-rot-grüne“ Experimente – 2013 hatte die SPD eine diesbezügliche historische Chance ausgeschlagen – werden langfristig undenkbar sein; nicht aber „kreative“ neue Koalitionskonzepte unter Einbeziehung der AfD. Österreich lässt grüßen.
Nacheinander wurden in den letzten Wochen die wichtigsten Politikerinnen und Politiker der SPD in den Medien demontiert: Nach Schulz wurde Sigmar Gabriel als „untragbar“ abgekanzelt, und zwar wegen einem einzigen, eher lächerlichen und harmlosen Satz über seine Tochter, die Schulz als „Mann mit den Haaren im Gesicht“ bezeichnet haben soll. Dies, so Teile der Presse, sei „erbärmlich“ gewesen, unwürdig eines Mannes, der Deutschland in der Welt vertreten soll.
Als drittes wird nun Andrea Nahles abgeschossen, bevor sie als Vorsitzende erst richtig anfangen konnte. Nahles habe schließlich bei den Verbrechen von Schulz und Gabriel assistiert, sei deshalb schon von Beginn an „angeschlagen“. Und außerdem – unverzeihlich – ihre Formulierung „Bätschi“. Nachdem nun die drei (bisher) wichtigsten Politiker diskreditiert sind, nachdem Scholz (zu alt), Kühnert (zu jung) und Schlesig (nach Mecklenburg-Vorpommern abgetaucht) der machtvollen Union bei Wahlen kaum das Wasser reichen können, bleibt der Eindruck völliger personeller Leere bei der SPD.
Erneuerung der SPD?
Die Partei müsse sich unbedingt grundlegend erneuern, giftet die Presse. Wie das gehen soll – diese Antwort bleiben die Redaktions-Schlauis jedoch schuldig. Denn sollte eine erneuerte SPD aus dem umhegten Bereich neoliberaler Wohlanständigkeit im Geringsten nach links ausbrechen, gibt’s gleich – um im Nahles-Deutsch zu bleiben – in die Fresse. Die nicht-linken Möglichkeiten einer rundum erneuerten Politik sind aber begrenzt. Von „Europapolitik“ über „Bildung“ bis hin zu einer Politik, bei der „Ökonomie und Ökologie keine Gegensätze sind“ (gähn!) – alle diese Felder werden auch von anderen Parteien eifrig bespielt. Die „Sicherheit“ – ohnehin der zentrale Fetisch unserer Zeit – ist bei CSU und AfD bestens aufgehoben, Aufrüstung und kriegerische Spannungspolitik sind unpopulär, die SPD hängt aber mit seltsamer Nibelungentreue an diesem schäbigsten Teil ihrer „Tradition“, die mit der Zustimmung zu den Kriegskrediten zu Beginn des Ersten Weltkriegs begründet worden war.
Wohin also sollte die SPD sich erneuern – mit einem stark ausgedünnten, müde gekämpften und lädierten Personal und einem Image, das den Zustrom motivierter politischer Talente in der nächsten Zeit unwahrscheinlich erscheinen lässt? Gern wird in der Presse auch ein heuchlerischer Abgesang auf die Sozialdemokratie angestimmt. Der Tenor: Die klassische Arbeiterschaft gebe es nicht mehr, die SPD habe ihren Auftrag erfolgreich erfüllt, sei aber gerade wegen ihres Erfolgs nunmehr überflüssig geworden. Die Geschichte werde über sie hinwegschreiten wie über eine Treppenstufe, die man zwar gebraucht hat, um aufzusteigen, die man aber im Überschreiten zugleich hinter sich lässt. Das ist Unsinn. Demokratischer Sozialismus wäre heute so notwendig wie eh und je in einem Land, in dem die Armut wieder zunimmt. Statt der „klassischen“ Arbeiter gibt es jetzt eben mehr Angestellte in zunehmend rechtlosen, unterbezahlten Verhältnissen, um die sich die Politik kümmern müsste. Ebenso wie das wachsende Heer der Zurückgelassenen und Gedemütigten, deren Schicksal auch all jene einschüchtert, denen man einen Arbeitsplatz gnädigerweise noch zugesteht.
Der Neoliberalismus ist ohnehin schon sehr stark seit drei Jahrzehnten. Aber genug (Neoliberalismus) ist den Zwingherren in den oberen Etagen der Konzerne, Banken, Medienunternehmen und Parteizentralen offenbar nicht genug. Sie wollen keine wackligen Teilerfolge, die periodisch durch lästige linke Störmanöver – etwa jene des Oskar Lafontaine – gefährdet werden. Sie wollen den totalen und endgültigen Sieg: die schwarz-gelbe und auch ein wenig braune Republik, in der ein scheinlinker Block für die Wähler eben nur noch den Anschein einer echten Alternative aufrechterhält.
Der Koalitionsvertrag – manches ist nicht so übel
Eine grüne Partei, die jetzt auch offiziell – faktisch ist es schon lange so – eine Monokultur mit zwei realpolischen, als neoliberalen, Flügeln ist. Und eine auf Werte nahe der 5-Prozent-Hürde geschrumpfte SPD, die von früher träumt und sich – gegen selbst auferlegte Denkverbote anrennend – im kleinen Kreis um sich selbst dreht. Eine solche Pseudolinke kann der selbstbewusst auftretenden Union auf lange Sicht nicht das Wasser reichen, und die Partei, die sich „Die Linke“ nennt, hält man durch Medien-Bashing eben bei 10 Prozent, schließt sie als „nicht-regierungsfähig“ dauerhaft von der Macht aus. Im Übrigen steht einem Aufstieg der Linken vor allem eines im Weg: bestimmte Linke, die autoritär, dogmatisch und alles andere als gewinnend auftreten und die ihre Hauptaufgabe im Diffamieren alternativer Nuancen des „Linksseins“ sehen. Doch das ist ein anderes Thema.
Überlegen Sie einmal, welche Attribute zur SPD 2018 Ihnen – basierend auf der Presseberichterstattung – spontan einfallen: „Desaströs“, „am Ende“, „nicht zukunftsfähig“, „ein Auslaufmodell“ – vermutlich werden solche Verdammungsurteile dominieren. Und dann schauen Sie sich als Kontrast an, was der Koalitionsvertrag wirklich enthält. Ich muss eingestehen – linke Freunde werden jetzt über mich herfallen –, ich war über manches darin eher positiv überrascht. Natürlich vor dem Hintergrund, dass sich meine Erwartungen an die etablierten Parteien seit Jahrzehnten in Grenzen halten. Im Koalitionsvertrag findet man:
- die finanzielle Entlastung von Eltern,
- Maßnahmen zum Wohnungsbau, um die Wohnungsnot einzudämmen,
- eine Stärkung der Pflege und die Einstellung von mehr Pflegekräften,
- eine Rückkehr zur paritätischen Finanzierung der Gesundheitskosten und den Einstieg in den Ausstieg aus der Zwei-Klassen-Medizin,
- starke Einschränkungen bei der sachgrundlosen Befristung von Arbeitsverträgen,
- Maßnahmen zur Förderung des ländlichen Raums,
- die Renovierung von Schulen und zahlreiche Neueinstellungen im pädagogischen Bereich.
Und noch andere durchaus positive Projekte. Das geht nicht nur in die richtige Richtung, es entspricht auch dem Kern dessen, was Sozialdemokratie ausmachen sollte. Von „ganz links“ aus betrachtet, ist all das natürlich nicht genug. Viele wichtige Punkte fehlen, andere sind fragwürdig – man denke etwa an die fortschreitende „Computerisierung“ des Schulunterrichts. Aber der Koalitionsvertrag verdient keine Pauschalverurteilung und rechtfertig nicht die Annahme, die SPD sei „am Ende“. Vielmehr sollte die Partei von allen, die meinen, es besser zu wissen, jetzt konstruktiv dazu angeregt werden, ihren eingeschlagenen Weg fortzusetzen, dabei mutiger und konsequenter zu werden. Die Wahrscheinlichkeit hierfür steigt, wenn sich ein möglicher SPD-Linksruck getragen weiß von einer breiten außerparlamentarischen Bewegung in der Bevölkerung.
Die „Kopie“ und das „Original“
Statt Flüchtlingen ein menschenwürdiges Leben zu missgönnen und nach der AfD zu schielen, sollten sozial empfindende Deutsche endlich damit beginnen, sich selbst und ihren Nachbarn etwas zu gönnen: mehr Rente, bezahlbare Wohnungen und Gesundheitskosten, mehr Lohn und sichere Arbeitsplätze. Das ist zu schaffen durch Protest auf Straßen und im Internet, durch eine vitale Alternativkultur, durch Unterstützung der radikaleren Kräfte bei den Linken, aber auch der „weniger Braven“ in der SPD. Die „Sozial“-Demokraten rücken nicht nach Links, solange sie nicht das Gefühl haben, dafür von einem Großteil der Bevölkerung honoriert zu werden.
Dem Vorwurf des „Klassenverrats“ steht nämlich noch ein anderer Deutungsansatz gegenüber: Die SPD als Partei des historischen „Klassenkompromisses“, die sich angesichts der von den Warschauer-Pakt-Staaten begangenen menschenrechtlichen Gräueln von der radikalen Linken distanzieren musste, wollte sie wählbar werden und soziale Fortschritte im Land voranbringen. Auch diesen Weg des Kompromisses hat die Schröder-SPD zugunsten eines Kniefalls vor den „Bossen“ inzwischen leider verlassen – sie könnte aber zu ihm zurückkehren, wird sie vom Volk dazu ermutigt und setzten sich die Erneuerungskräfte in der Partei durch. Für die SPD sprechen noch immer eine lebhafte Debattenkultur und eine Mehrheit an der Basis, die im Prinzip das Richtige will, die von ihrer jetzigen Führungselite aber immer wieder zu einem marktradikalen Kurs verführt wird.
Die Mehrheit im Volk neigt nicht zur Radikalität. Sie ist vorsichtig und wertkonservativ, scheut „Extreme“. Drittes Reich und DDR haben den Geschmack an Ideologien und Fundamentalismen ebenso verdorben wie die Entwicklung von Teilen des Islams hin zu einem neuen und grausigen „Ismus“.
Wir können über die Halbherzigkeit, die Trägheit, die Duldsamkeit des „Normaldeutschen“ klagen und diese Geistesart als Ergebnis jahrzehntelanger Indoktrination durch die Systempresse kritisieren. Aber vorerst müssen wir mit diesem „Volk“ leben, wie es ist. Überspitzt ausgedrückt braucht es auch eine soziale Partei für die „Spießer“, denn die brillanten, die innovativen, die radikalen Köpfe sind in jeder Gesellschaft und in jeder Epoche in der Minderzahl.
Wollen wir das Mehrheitsprinzip in der Politik nicht preisgeben, müssen wir mit einer Mehrheit leben, die nicht unseren Maximalanforderungen an politischem Durchblick entspricht; wir müssen die Mentalität dieser Mehrheitsbevölkerung aber geduldig zu verändern versuchen.
Schwarz-Gelb-Braun: Das Ende der Nachkriegsgemütlichkeit
Wir hatten eine streckenweise „gemütliche“ Nachkriegsdemokratie mit Typen wie Norbert Blüm oder Johannes Rau als Exponenten. Aus diesem ohnehin nur höchst unvollkommenen „Paradies“ sind wir vertrieben worden durch die Unersättlichkeit und Skrupellosigkeit des extremistischen Raubtierkapitalismus. Spätestens seit dem Zusammenbruch der DDR befinden wir uns auf einer abschüssigen Ebene in Richtung Marktradikalismus, wir sind staunende, nur zaghaft aufbegehrende Zeugen eines sich nähernden Endsiegs des totalen Kapitalismus. Soll dieser Trend aufgehalten werden, braucht es eine größere, wohlwollende Bewegung in den Parlamenten, die in der Lage ist, die Mehrheit der Bürger dort abzuholen, wo sie gerade steht – notfalls auch in kompromisslerischen und „spießigen“ Geistesgefilden. Auf mehreren Ebenen (SPD – gemäßigt, Linke – teilradikal, außerparlamentarische Bürgerbewegungen – radikal) könnte sich so die historisch notwendige anti-neoliberale Antithese entfalten und uns in eine wieder menschlichere Republik führen. Das „Ende der SPD“ wie es klammheimlich auch von Menschen aus „unseren“ Kreisen herbeigeschrieben wird, wäre dabei strategisch völlig kontraproduktiv.
Wer eine „linkere“ Republik wünscht, sollte seine Abneigung nicht vor allem auf jene richten, die es nicht geschafft haben, soziale Projekte zu 100 Prozent im Koalitionsvertrag durchzusetzen. Vor allem muss der Kampf jenen gelten, die versucht haben, selbst diese wenigen Verbesserungen noch zu verhindern: der Union, jenem unbelehrbaren Machtblock, der innerhalb der politischen Landschaft quasi das autoritär-neoliberale „Mordor“ darstellt.
Kritisieren wir (konstruktiv) die SPD-Kopie! Aber hassen wird sie nicht mehr als das CDU/CSU-Original! Es bricht uns sonst die einzige realistische Machtalternative zu einem dauergeschwärzten Deutschland weg.
Der Koalitionsvertrag ist unzureichend, ja; aber ein ausschließlich von der Union (vielleicht noch gemeinsam mit dem digitalen Lindner) gestalteter Vertrag wäre ein Gruselschocker geworden.
Versuchen wir den Zeitgeist über die nächsten Jahre nach links zu drehen, dann kann auch in den lauen GenossInnen der Mut zu „mehr“ erwachen. Wenn das nicht gelingt, wenn das Projekt „Vernichtung der Sozialdemokratie“ Erfolg hat, werden wir in einer Republik aufwachen, die wir nie wollten: einem von Angst, Repression und Kriegshetze überschatteten Land, in dem Soziales nicht einmal mehr als ferne Vision und realpolitisches Häppchen auf der Tagesordnung steht. Für die Zukunft spahnt mir dann Schreckliches.