«Überfremdung» – Zur Sozialpsychologie eines Gefühls

 In Gesundheit/Psyche, Politik (Inland)

Rechte haben ihre eigenen “Lösungs”angebote

Ein Rückblick auf das Phänomen Pegida. (Götz Eisenberg) “Dass der Rechtsradikalismus im Osten Deutschlands eine breitere Basis hat, hängt mit einer spezifischen kulturellen und sozialpsychologischen Ungleichzeitigkeit der ehemaligen DDR-Gesellschaft zusammen. Dass die Geschichte der ersehnten Wiedervereinigung für viele ehemalige DDR-Bürger zu einer Geschichte der Enttäuschungen geworden ist, liegt nicht nur an dem für viele ausgebliebenen Wohlstand und dem massenhaften Verlust der Arbeitsplätze, sondern auch daran, dass sie sich nach dem Anschluss sozio- und psychostrukturell in der Fremde befanden. Sie gerieten in die Position des Hebbel‘schen Meister Anton, der am Ende des Theaterstücks Maria Magdalena ausruft: ‘Ich verstehe die Welt nicht mehr.'” Ein gewichtiger Aufsatz, der politische, historische wie kollektiv-psychologische Vorgänge ins Auge fasst. (Götz Eisenberg)

„Volk ist eigentlich ein faschistischer Begriff.“
(Thomas Brasch)

Das Ost-West-Gefälle

Pegida ist letztlich ein Ost-Phänomen geblieben. Der Funke des rassistischen Ressentiments ist trotz eifriger Bemühungen nicht so auf den Westen übergesprungen, wie es sich die Organisatoren erhofft hatten. Dort protestiert eine Mehrheit von Pegida-Gegnern gegen eine Minderheit von xenophob verstockten Verteidigern des Abendlandes. Obwohl in den sogenannten Neuen Bundesländern nur rund ein Fünftel der Deutschen lebt, findet dort fast die Hälfte aller fremdenfeindlichen und rechtsextremen Übergriffe und Anschläge statt. Auch in der aktuellen „Flüchtlingskrise“ findet man dieses Ost-West-Gefälle: Während im Osten der Widerstand gegen den Zuzug der Migranten wächst und immer militantere und gewalttätigere Züge annimmt, überwiegt im Westen das, was man „Willkommenskultur“ nennt. Das Applaudieren an Bahnhöfen und das Verschenken von Plüschtieren sind nette Gesten und kurzlebige Erscheinungen, die zur Lösung der mit der massenhaften Migration verbundenen langfristigen Probleme wenig beitragen. Heribert Prantl schrieb in der Süddeutschen Zeitung vom 17./18. Oktober 2015: „Das Elend der Flüchtlinge ist so nahe gerückt in den vergangenen Wochen – und es hat so viele Menschen hierzulande ans Herz gefasst. Es ist aber auch die Sorge groß. Dass die Stimmung kippt, dass sich Angst Luft macht in Abwehr und Ausschreitung. Man kann dieses Kippen der Stimmung auch herbeireden, herbeischreiben und herbeisenden; ich glaube, das geschieht gerade. Es geschieht dies so ähnlich, wie zuvor die Betroffenheit herbeigeschrieben und herbeigesendet werden konnte. Wenn Stimmungen nur Stimmungen sind und keine Überzeugungen, schlagen sie schnell um. Mit einem gezeitenspiel von Emotionen, im Wechsel von Hui und Pfui, lässt sich freilich verlässliche Flüchtlingspolitik nicht gut machen.“

Im Frühjahr 2015 schien es so, als würde das Phänomen Pegida in der Folge interner Auseinandersetzungen, Zerwürfnisse und Spaltungen von der politischen Bühne verschwinden. Die Teilnehmerzahlen der montäglichen Demonstrationen gingen zurück. Auch der Auftritt des holländischen Rechtspopulisten Geert Wilders im April konnte diesen Trend nicht aufhalten. Nun fährt der Wind der sogenannten Flüchtlingskrise den Rechtsradikalen in die Segel und sorgt für eine Wiederbelebung dumpfer Ressentiments und damit auch der Pegida-Bewegung. Am 12. Oktober 2015 – kurz vor dem einjährigen Bestehen von Pegida – sollen es in Dresden wieder an die 9000 Demonstranten gewesen sein, die unter anderem einen Galgen für Merkel und Gabriel mit sich geführt haben. Das markiert eine neue Stufe der Eskalation und Verwilderung der politischen Sitten. Die Parallelen zu den historischen Nazi-Aufmärschen und ihrer Symbolik werden immer unübersehbarer.
Am Samstag, den 17. Oktober 2015 hat ein 44-jähriger Nazi die Sozialdezernentin der Stadt Köln bei einer Messerattacke auf einem Wochenmarkt schwer verletzt. Der Täter sagte unmittelbar nach seiner Tat: „Ich musste es tun. Ich schütze euch alle.“ Er hatte sich Henriette Reker als Ziel ausgesucht, weil sie unter anderem für die Flüchtlingsunterbringung zuständig ist.

Der Staatssozialismus als Hort traditioneller deutscher Haltungen

Das Ost-West-Gefälle muss mentalitätsgeschichtliche Ursachen haben. Unter der „Käseglocke“ des Staatssozialismus haben alte preußisch-deutsche Tugenden und Haltungen überdauert, die man nach 1945 zu Insignien einer proletarischen Lebensführung und Parteidisziplin erklärte. Die ehemalige DDR ist eine Gesellschaft, die 1968 keine kulturelle Revolution erlebt hat, die im Westen die alten autoritären und versteinerten Verhältnisse zum Tanzen brachte und einen mentalitätsgeschichtlichen Bruch markierte. Dass fremdenfeindliche Einstellungen und daraus hervorwachsende rassistische Pogrome in den neuen Bundesländern verbreiteter sind als im Westen Deutschlands, scheint mir unter anderem darin begründet, dass in der ehemaligen DDR jene kollektive Paranoia, die man in Deutschland Erziehung nannte, ungemindert und durch keinen Liberalisierungsschub gebrochen fortbestand, wie er im Westen durch die 68er Bewegung ausgelöst wurde. Der zukünftige Kommunist sollte sich mit Kernseife waschen, kalt duschen, die Zähne zusammenbeißen und hart sein. Schläge und Strafen galten nach wie vor als die guten Köche in der Erziehung.

Als mein Vater, der sich als ehemaliger Nationalsozialist und Träger tradierter antikommunistischer Vorurteile Jahre lang geweigert hatte, seinen Patenjungen in Halle/Saale zu besuchen, sich Mitte der 1970er Jahren schließlich doch zu einer Reise in die „Ostzone“ durchgerungen hatte, überraschte er uns nach seiner Rückkehr mit einem fast schwärmerischen Reisebericht: „Drüben“ hätten die jungen Leute noch Ideale und Manieren, sie trügen anständige Haarschnitte und stünden in der Straßenbahn unaufgefordert für ältere Leute auf. Vor allem gebe es keine aufdringliche Reklame und die damit verbundene Sexualisierung des öffentlichen Lebens. Anfang der 70er Jahre hatte ich selbst im Rahmen eines längeren Aufenthalts Gelegenheit, mich davon zu überzeugen, dass im abgeriegelten staatssozialistischen Gehege der DDR-Gesellschaft traditionelle Haltungen und Erziehungsstile ungemindert fortexistierten. Ich erinnere mich lebhaft an mein Erschrecken, als ein hoher Parteifunktionär uns Westlern anlässlich des Besuches in einer sozialistischen Kinderkrippe die heiligen Grundsätze der „schwarzen Pädagogik“ (Katharina Rutschky) als Kennzeichen sozialistischer Erziehung und als Heilmittel gegen westliche Dekadenz pries. Wir Antiautoritären, die in einem Schulungslager „auf Kurs“ gebracht werden sollten, hatten in unserer Auseinandersetzung mit der NS-Generation unserer Eltern erkannt, dass das, was uns da als Teil einer antifaschistischen Haltung präsentiert wurde, zu den subjektiven Bedingungen der Möglichkeit des Faschismus gehörte und auf jeden Fall autoritäre Charakterstrukturen hervorbringt. Der autoritär dressierte und „zur Sau gemachte“ Mensch trägt eine lebenslang wirksame Neigung davon, sich für die erlittenen eigenen Qualen an Sündenböcken schadlos zu halten.

Dass also der Rechtsradikalismus im Osten Deutschlands eine breitere Basis hat, hängt mit einer spezifischen kulturellen und sozialpsychologischen Ungleichzeitigkeit der ehemaligen DDR-Gesellschaft zusammen. Die Masse der Pegida-Demonstranten, so war einer aktuellen Studie zu entnehmen, ist um die 50 Jahre alt oder älter, hat also Kindheit, Jugend und einen Teil des Erwachsenenlebens noch in der DDR verbracht und weist eine entsprechende Prägung auf.

„Sinnentzug“ nach der Wende

Dass die Geschichte der ersehnten Wiedervereinigung für viele ehemalige DDR-Bürger zu einer Geschichte der Enttäuschungen geworden ist, liegt nicht nur an dem für viele ausgebliebenen Wohlstand und dem massenhaften Verlust der Arbeitsplätze, sondern auch daran, dass sie sich nach dem Anschluss sozio- und psychostrukturell in der Fremde befanden. Sie gerieten in die Position des Hebbel‘schen Meister Anton, der am Ende des Theaterstücks Maria Magdalena ausruft: „Ich verstehe die Welt nicht mehr.“

Die Ostdeutschen wiesen das falsche Sozialisationsfundament für ein Leben unter kapitalistischen Markt- und Konkurrenzbedingungen auf. Aufgewachsen und sozialisiert in einer Gesellschaft des Mangels und mit klaren Rollenmustern und biographischen Vorgaben und Verläufen, gerieten sie nun in eine Gesellschaft, in der jeder selbst sehen muss, wo er bleibt, und in der Konsum über die soziale Integration entscheidet. Sie gerieten in der quasi-dadaistischen Lage desjenigen, der versucht, sich mit einem alten Stadtplan von Frankfurt an der Oder im heutigen Frankfurt am Main zu orientieren. “Sinnentzug” hat Alexander Kluge Situationen genannt, in denen kollektive Lebensprogramme von Menschen schneller zerfallen, als sie in der Lage sind, neue zu produzieren. Bestimmte Verhaltensweisen, Gewohnheiten und Routinen des Alltags werden entwertet, sind plötzlich leer und dysfunktional. Aber man hat sie doch lernend verinnerlicht und kann sie jetzt nicht einfach so beiseitelegen wie einen Anzug, der aus der Mode gekommen ist oder einem nicht mehr passt. „Sinnentzug“ heißt auch, dass das Gelernte und lebensgeschichtlich Erworbene auf kein Lebensgelände mehr so richtig passt, dass das, was einem zustößt und was aus der Zukunft auf einen zukommt, sich der eigenen Verarbeitungslogik nicht mehr fügt. „Sinnentzug“ ist eine Erfahrung, die Angst und Unsicherheit entbindet, mitunter flackert Panik auf. Jedenfalls hält der ans Ertragen offener und ambivalenter Situationen nicht gewöhnte Mensch so etwas nicht lange aus: Je nach Temperament und Prägung wird er wütend oder krank oder suizidal.

Viele ehemalige DDR-Bürger waren, ihrer alten kollektiven Stützen beraubt, orientierungslos. Ein Reich des Vertrauten, das gerade wegen seiner autoritären Züge eben auch barg und entlastete, war zerfallen und ein neues musste sich erst bilden. Einem braven Staatswichtel ging es gar nicht so schlecht in der DDR: Es blieben ihm allerhand strapaziöse Ich-Leistungen und Orientierungsarbeiten erspart, die eine hochindividualisierte Marktgesellschaft ihren Mitgliedern abverlangt. Der Bürger der DDR war in nahezu allen Lebenslagen Teil eines Kollektivs und deswegen nicht genötigt, ein “Einzelner” zu sein. Die seit der Währungsunion hereindrängenden Markt- und Konkurrenzverhältnisse atomisierten die Kollektive, dünnten die Sozialbezüge aus und verwandelten die Menschen in isolierte und gegeneinander konkurrierende Einzelne. “Irgendwie ist auch alles kälter geworden”, gab eine 17-Jährige ein paar Jahre nach der Wende in einem ZEIT-Interview zu Protokoll.

Der Wiedervereinigungsfrust wurde noch gesteigert durch die arrogante Hochnäsigkeit, mit der die Wessis ihren neuen Mitbürgern begegneten. Kehren wir noch einmal zum Anzug-Bild zurück: Die Ex-DDRler stecken in ihren alten Anzügen und wurden von den Westlern behandelt wie Dörfler, die in ihrem Sonntagsstaat in die Stadt fahren, um sich die Auslagen in den Schaufenstern anzusehen, die nicht genau wissen, wie man sich in der Stadt bewegt, die, wenn man sie anspricht, scheu und verlegen ihre Mützen in den Händen drehen und deren Geld nur ausreicht, um sich in einer billigen Kneipe ein Bier und ein Würstchen zu bestellen. Habermas hat in seinem 1990 erschienen Buch Vergangenheit als Zukunft zu Recht darauf hingewiesen, dass die herablassende Art der „Wessis“ gegenüber den „Ossis“ ein Wurzel hatte, die den „Wessis“ ebenso verborgen gewesen sein dürfte wie den „Ossis“ die Quellen ihres Fremdenhasses: “Die ‚Wessis‘ reagieren ja auf manche habituellen Eigentümlichkeiten und mentalen Züge ihrer Brüder und Schwestern aus dem Osten so allergisch, weil sie sich darin wiedererkennen. Es steigen Bilder auf aus den eigenen Anfangsphasen, als die deutschen Sekundärtugenden aus ihrer politischen Verbrämung – und Verbräunung – hervortraten und aggressiv ins geschichtslos Private ausschlugen.”

Pegida und die „friedliche Revolution“ von 1989

Wahrscheinlich war Pegida schon 1989 als eine Unterströmung in der damaligen „friedlichen Revolution“ enthalten. Revolutionen sind ja immer strategische Bündelungen ganz verschiedener Intentionen und Interessen, und ein Teil der gegen die DDR, SED und Stasi demonstrierenden Menschen war damals schon deutsch-national, stramm antikommunistisch und von allerhand regressiven Sehnsüchten angetrieben. „Wir sind das Volk!“ war und ist eine äußerst mehrdeutige und zweifelhafte Parole, denn der Begriff „Volk“ schleppt ethnische Aufladungen, Aus- und Abgrenzungen mit sich. Er enthält etwas Drohendes denen gegenüber, die nicht zum „Volk“ gehören. Aus dem „Volk“ ragt ein „Führer“ heraus. Thomas Brasch sagte deshalb mit einem gewissen Recht: „Volk ist eigentlich ein faschistischer Begriff.“ Soziologisch verweist der Begriff „Volk“ auf vorbürgerlich-feudale Zustände. Könige und Kaiser sprachen von „meinem Volk“, ebenso der Gott des Alten Testaments. Als politischer Begriff ist „Volk“ der Gegensatz zum Souverän und bezeichnet die in Stände und Kasten sich gliedernde Masse der Untertanen. Um zu verstehen, wie Ungleichheit unter formell demokratischen Verhältnissen fortbesteht, ist es nötig, sich vom Begriff des „Volkes“ zu lösen und sich dem der „Gesellschaft“ zuzuwenden. Diese existiert einstweilen als Klassengesellschaft, die zwar als Volk, Nation oder Staat nach wie vor eine Einheit darstellt, zugleich aber ihren inneren Gegensatz in gesellschaftlichen – anders gesagt: in Klassenkämpfen austrägt. Der Begriff „Volk“ ist häufig Ausdruck von bloßen Ressentiments gegen „die da oben“, gegen „Parasiten und Schmarotzer“ und ist zum Erfassen der Wirklichkeit einer hochkomplexen kapitalistischen Klassengesellschaft zu unscharf.

Die Parole „Wir sind das Volk“ war sicher in erster Linie als Provokation des Arbeiter- und Bauern-Staates und der realsozialistischen Obrigkeit gedacht, die sich gern und oft auf das Volk berief und in seinem Namen zu sprechen und zu handeln vorgab. Und dennoch schwangen möglicherweise auch regressive Sehnsüchte mit, die der Begriff „Volk“ symbolisiert und mobilisiert. Man kann in ihr den romantischen Wunsch nach Königen erkennen. Es ist ein Bedürfnis nach einem Wiederaufleben der Monarchie, nach einem guten König, bei dem sich das Volk in einem kindlichen Sinn aufgehoben fühlt. Es steckt in diesen Sehnsüchten im Sinne Ernst Blochs auch ein utopischer Überschuss, die Sehnsucht nach einer Welt jenseits von Verwaltungsbeamten und Funktionären, jenseits von blinder Aktion, Kapitalbewegung und gefühlloser, barer Zahlung. Ernst Bloch hat darin Recht, dass in dem Märchenbedürfnis und den Traumbildern völlig unentdeckte Energien stecken, die weithin unterschätzt oder ignoriert werden. Natürlich ist der Wunsch nach einem König regressiv. Ein Rückfall in die Kindheit, für Kinder gibt es Könige. Jeder Erwachsene ist ein erwachsen gewordenes Kind, und dieses setzt in ihm den Kampf um das kindliche Lustprinzip und seine Sehnsüchte fort. Diese werden durch gesellschaftliche Zwänge nach innen in die Phantasie und nach unten ins Unbewusste gedrückt, wo sie weiterleben und sich gelegentlich in einer chiffrierten Sprache äußern.

Wir haben uns über den Charakter der 1989er Bewegung möglicherweise Illusionen gemacht, weil die ideologische Begleitmusik von Dissidenten, kritischen Intellektuellen und Künstlern geliefert wurde. Für einen kurzen historischen Moment schien es so, als repräsentierten die die Mehrheit der DDR-Bevölkerung.

Das, was man euphemistisch “Revolution” genannt hat, war sozialpsychologisch eher das, was Erich Fromm als “Rebellion” bezeichnet hat: Der von der alten Autorität Enttäuschte stürzt, was an Macht und Glanz verliert und ohnehin bereits fällt, um es durch eine neue Autorität zu ersetzen, mit der er sich identifizieren kann, weil sie ihm Halt, Stützung und Sicherheit verspricht. Wann hätte sich ein braver deutscher Staatswichtel jemals gegen seine Entmündigung zur Wehr gesetzt, wenn er in dieser sein behagliches Auskommen hatte? Wenn es mit dem Konsumieren und der Effizienz des alten Systems besser bestellt gewesen wäre, dann hätte er es noch eine ganze Weile ertragen. So aber wandte er sich enttäuscht gegen eine Macht, die bereits auf dem letzten Loch pfiff und vor allem die Unterstützung der alten Vormacht Sowjetunion verloren hatte, und unterwarf sich flugs neuen Herren, die ihm potenter, mächtiger und in jeder Beziehung stärker zu sein schienen. Dass die neuen Herren ihre ihnen zugelaufenen Untertanen im Regen stehen gelassen haben, gehört zur Vorgeschichte jenes Unmuts, der sich nun in und durch Pegida artikuliert.

Vom Einrennen offener Türen

Wenden wir uns für einen Moment den Anti-Pegida-Demonstrationen zu. Ein nicht unbeträchtlicher Teil der Leute, die sich gegen Pegida und für ein „buntes, weltoffenes Deutschland“ ausgesprochen haben, findet den Rechtsradikalismus und den Rassismus einfach nur peinlich, „prolo“, „uncool“ und „unsexy“. Politisch-moralische Fragen sind in gewissen Milieus längst zu Geschmacksfragen geworden, die Wahrheit unterwirft sich dem Reiz. Etwas muss „sexy sein“, um gut zu sein und als angenehm empfunden zu werden.

Der Umstand, dass sich an vielen Orten Repräsentanten des Staates in die Demonstrationen eingereiht haben, belehrt uns darüber, dass man mit solchen Parolen offene Türen einrennt. Frank Walter Steinmeier stellte denn auch fest, dass Pegida dem Ansehen Deutschlands in der Welt schade und man einen Rückgang ausländischer Investitionen fürchten müsse. „Weltoffenheit“ ist die mentale Seite der Schaffung des Weltmarktes und der Globalisierung und die Haltung derer, die davon profitieren. Das Geld ist nicht patriotisch und reißt in seinem vampirhaften Hunger nach Profit sämtliche Begrenzungen und nationalstaatlichen Grenzen nieder. Wenn es in Taiwan oder sonst wo mehr Rendite abwirft, wandert es dorthin. Es gibt kein nationales Geld, dem Geld ist – salopp gesagt – alles egal. Die fortgeschrittenen Kapitalfraktionen sind längst über das autoritäre Stadium hinausgegangen und propagieren flache Hierarchien, Teamfähigkeit, kommunikative Kompetenz und Empathiefähigkeit. Flexibilität, Mobilität, Kreativität sind die Fetische einer Beschleunigungs-Gesellschaft, die nicht länger den traditionellen Begriff der Arbeit propagiert, sondern dem „Projekt“ huldigt, deren flüchtige Mitarbeiter sich per Selbstoptimierungstechniken und allerhand Lockerungsübungen in Form bringen, um ihre Verwertbarkeit zu erhalten und zu steigern.

Bei einer Anti-Pegida-Demonstration stand neben mir eine junge Frau, die ein Transparent hochhielt, auf dem zu lesen war: „Für Liebe und Kommunikation“. Das könnte auch ein Werbespruch von Facebook sein. In Frankfurt standen ein paar hundert Pegidisten zig-tausend Anti-Pegidisten gegenüber. Im Westen protestiert eine Mehrheit gegen eine Minderheit von verstockten, xenophoben Betonköpfen. Eine bereits weitgehend überwundene Stufe der kapitalistischen Entwicklung liegt im Streit mit der nächst höheren.

Welche Ziele verfolgt diese Mehrheit außer der Zurückweisung der Pegida-Dumpfbacken, also einer ohnehin überholten Mentalität? Enthält die Bewegung irgendwelche den gegenwärtigen Zustand transzendierenden Aspekte? Weitergehen könnte es nur, wenn die bloße Anti-Pegida-Haltung aufgegeben und man sich anderen Themen stellen würde: Wie steht es um die Verhinderung des Freihandelsabkommens TTIP, um die Kontrolle der Banken, eine neue Finanzordnung oder gar die Entwicklung von Alternativen zum Kapitalismus?

Es wäre ein Gebot der Stunde, dass wir unsere Aufmerksamkeit auf den schwelenden Ukraine-Konflikt und den Krieg in Syrien richten und unsere Energien zur Friedenssicherung einsetzen. Wenn ich in den letzten Wochen Nachrichten höre, bin ich immer wieder darüber erstaunt und befremdet, wie ruhig wir uns alle angesichts der wachsenden Kriegsgefahr verhalten. Wenn in Minsk keine praktikable und vor allem dauerhafte Einigung erzielt wird, droht der innerukrainische Konflikt zu eskalieren und sich zu einem europäischen Krieg auszuweiten. Ist die Schwelle zum Krieg erst mal überschritten, wird niemand verhindern können, dass von der ins Hintertreffen geratenen Seite irgendwann auch Atomwaffen eingesetzt werden. Als nach dem NATO-Doppelbeschluss neue Pershing-Raketen in Europa stationiert wurden, gingen Anfang der 1980er Jahre Hunderttausende auf die Straße. 300 000 Menschen versammelten sich im Oktober 1981 im Bonner Hofgarten. Ich bin damals mit vielen anderen Gießenern in einem Sonderzug nach Bonn gefahren, und wir hörten die Ansprachen von Albertz, Böll, Petra Kelly, Eppler und vor allem von Coretta Scott-King, der Ehefrau von Marin Luther King, der ja 1968 in Memphis ermordet worden war. Am frühen Morgen kehrten wir müde, aber auch euphorisiert von dem Massenerlebnis und voller Hoffnung, etwas bewegen und verändern zu können, nach Hause zurück. Damals existierte noch eine wie immer zersplitterte Linke, die sich auf Jahre nahezu ausschließlich mit Friedensthemen befasste. Die Lage heute scheint mir viel dramatischer, die Gefahr greifbarer, und gleichzeitig herrscht vollkommene Agonie, eine beinahe stuporöse Erstarrung. Oder ist es Indifferenz, Abstumpfung, Resignation oder von allem ein bisschen?

Offenbar ist unsere Empörungsfähigkeit angesichts der Fülle von Horrormeldungen erlahmt. Die meisten Massaker ereignen sich vor laufenden Kameras. Je drastischer die Bilder, desto schneller vergessen wir sie. Alles zeigen, alles ausbreiten, alles präsentieren: Dies ist das beste Mittel, um uns gegen das Unglück, von dem die Medien berichten und von dem sie vampiristisch zehren, immun zu machen. Die Fülle der Nachrichten wird zum Widersacher der Wahrheit, unsere Aufnahmefähigkeit und Verarbeitungskapazität kollabiert unter dem Ansturm schrecklicher Bilder. Die Metastasen des Zynismus breiten sich aus und drohen unsere Fähigkeit zu Widerstand und Revolte zu zerstören.

Herbert Marcuse hat in diesem Zusammenhang von einer “Normalisierung des Grauens” gesprochen. Es ist höchste Zeit, dass wir unsere Sensibilität und Empörungsfähigkeit wiederentdecken. Schließlich ginge es für die europäische Linke darum, sich mit dem Bemühen der neuen griechischen Regierung zu solidarisieren, die für das Land verheerenden Bedingungen loszuwerden, die mit der Kreditgewährung durch die Europäische Union verbunden sind, und sich von der Gängelung durch die sogenannte Troika zu befreien. Wer den Film Agorá – Von der Demokratie zum Markt des griechischen Filmemachers Yórgos Avgerópoulos gesehen hat, bekam eine Ahnung davon, worum es geht und was auf dem Spiel steht. Er fängt die politischen und sozialen Auswirkungen der Griechenland aufgezwungenen Austeritätspolitik in intensiven, teilweise erschütternden Bildern ein. Ein ganzes Volk ist im Begriff, seine Würde zu verlieren – ein Wort, das die meisten von uns Dieter Hildebrandt zufolge nur noch als Konjunktiv II in dem Satz: “Für Geld würde ich alles machen” kennen. Es geht in den aktuellen Auseinandersetzungen um viel mehr als nur die Kreditvergabe an Griechenland: Es geht um eine andere Europäische Union, die sich in ihrem politischen und ökonomischen Handeln am Wohl und Wehe der in ihr lebenden Menschen und nicht an den Bedürfnissen „der Finanzmärkte“ und den Profitinteressen der Wirtschaft orientiert. Ein Scheitern von Syriza wäre ein Scheitern der europäischen Linken insgesamt. Danach, so steht bei einer Zuspitzung der ökonomisch-sozialen Krise zu fürchten, schlägt die Stunde der Rechtspopulisten und Faschisten.

Verschiedene „Psychoklassen“

Eine gegebene Bevölkerung zerfällt bei näherem Hinsehen in verschiedene Teilvölker. Der amerikanische Psychohistoriker Lloyd deMause spricht von „Psychoklassen“, die sich auf der Basis verschiedener Kindheitsmuster ausbilden. Unter Zuhilfenahme von Ernst Blochs Begriff der Ungleichzeitigkeit können wir gegenwärtig drei große Psychoklassen unterscheiden: Es gibt die autoritär dressierten, „ungleichzeitigen“ arbeitsamen, sparsamen, pünktlichen Menschen, die politisch eine Neigung zum Autoritarismus und Konzepten ethnischer Homogenität aufweisen. Sie sind Überbleibsel aus einer vergangenen Stufe der Durchsetzungsgeschichte der kapitalistischen Gesellschaft. Die meisten Angehörigen der ungleichzeitigen Psychoklasse werden wir wegen der oben geschilderten Bedingungen auf dem Gebiet der ehemaligen DDR antreffen, aber natürlich existieren sie als Auslaufmodell auch noch im Westen. Es gibt die „gleichzeitigen“ Menschen, die ein leidenschaftliches Verhältnis zum Geldausgeben und zum Konsumieren haben. Sie praktizieren einen konsumistischen Lebensstil und frönen in der Freizeit ihrem Fitnesscenter-Narzissmus. Schließlich existieren die „übergleichzeitigen“ flexiblen, driftenden Menschen, die gelernt haben, sich an nichts und niemanden zu binden. Wie Taumelkraut überlassen sie sich den wechselnden Winden des Marktes. Sie hängen, wie Nietzsche gesagt hat, ihren Mantel so lange in den Wind, bis sie selbst zu diesem Mantel werden. Sie sind in bestimmten großstädtischen Arealen anzutreffen und beruflich der IT-Branche und anderen Fortschrittsindustrien zuzuordnen. Es geht ja in den fortgeschrittenen Sektoren der Ökonomie nicht mehr darum, Leute zur Erfüllung bestimmter Routinen zu dressieren, sondern umgekehrt, Leute von der Fixierung an Routinen wegzubringen und zum locker-flockigen Driften zu animieren. Sie sollen sich psychisch offen halten und sich permanent umorientieren können. Wenn sich nichts Gravierendes ändert, wird dieser dritten Klasse die Zukunft gehören. Politisch sind ihre Mitglieder weitgehend indifferent. Sie wollen Karriere machen, Geld verdienen, sich permanent selbst optimieren und ihren Spaß haben.

Die gegenwärtig rund um Pegida und die sogenannte Flüchtlingsfrage zu beobachtenden Strömungen lassen sich grob diesen Psychoklassen zuordnen, wobei Pegida selbst der politische Ausdruck der „Ungleichzeitig-Gestrigenen“ ist. Immer dann, wenn in krisenhaften Zeiten der Angst- und Panikpegel steigt, setzen Ich-Regressionen ein, deren Falltiefe ungewiss ist. Es kommt dann zu einer kollektiven Regression auf frühere mentalitätsgeschichtliche Stadien. Deswegen besteht kein Anlass zur Entwarnung. Ältere Denk, Affekt- und Handlungsgewohnheiten liegen unter einer dünnen Schicht aus Anpassung an die gewandelten Verhaltensimperative noch bereit und können in Krisenzeiten reaktiviert und politisch nach rückwärts in Gang gesetzt werden.

Das Überfremdungsgefühl

Wenn sächsische und anderswo beheimatete Bürger gelegentlich eine Angst vor „Überfremdung“ artikulieren, kann dieses Gefühl ja nicht auf die Anwesenheit einer verschwindend kleinen Gruppe von Muslimen zurückgehen. Wenn die ehemalige DDR von irgendetwas „überfremdet“ wurde, dann durch die nach der sogenannten Wende eingeführten kapitalistischen Verhältnisse, die sich wie ein Alp auf das Leben der Menschen gelegt und es in eine eisige Gletscherlandschaft verwandelt haben. Heiner Müller hat diesen Prozess nach der sogenannten Wiedervereinigung in einem Interview mit der Frankfurter Rundschau so beschrieben: „Eine Fahrt durch Mecklenburg: an jeder Tankstelle die Siegesbanner der Ölkonzerne, in jedem Dorf statt der gewohnten Schreibwaren Mc Paper & Co.“

Das „Fremde“, von dem die Menschen sich bedroht fühlen, ist die Teufelsmühle des Kapitals selbst, in der die einheimischen Industrien und tradierte Lebensformen zermahlen wurden. Da man aber gegen „kapitalistische Verhältnisse“ und undurchsichtige, anonyme finanzielle Abstraktionen nicht handgreiflich vorgehen kann, zieht man es vor, sich an „die Fremden“ zu halten. All die von Pegida vorgetragenen Versprachlichungen eines vagen Bedrohtheitsgefühls sind letztlich nur Chiffren für Unsicherheit, Desorientierung und Ängste, die eine Folge der Globalisierung sind, die wie ein Wirbelsturm über das Beitrittsgebiet gefegt ist und die Dächer der Häuser abgedeckt hat. Früher, könnte man mit Herbert Achternbusch sagen, ist hier einmal Sachsen gewesen. Jetzt herrscht hier die Welt. Auch Sachsen ist wie der Kongo oder Kanada von der Welt unterworfen, wird von der Welt regiert. Sachsen ist eine Kolonie der Welt. „Auch dieses Stück Erde ist Welt geworden. Und Welt ist nur ein anderes Wort für Geld. Je mehr die Welt regiert, desto mehr wird die Erde vernichtet, werden wir, die dieses Stück Erde bewohnen, vernichtet. Die Welt vernichtet uns, das kann man sagen.” Pegida artikuliert auf eine vollkommen falsche und blind-rückwärtsgewandte Weise dieses Gefühl der Vernichtung.

Pegida hat Schleusen geöffnet

Was außer zerstrittenen Fraktionen von Pegida bleibt, ist schlimm genug. Die Pegida-Aufmärsche haben eine Schleuse geöffnet, durch die eine grausige, braune Brühe strömt. So hat sich die Zahl der rassistisch motivierten Übergriffe seit dem Beginn der Demonstrationen mehr als verdoppelt. In den ersten drei Quartalen des Jahres 2015 gab es circa 500 Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte, darunter auch Dutzende von Brandanschlägen. Die organisierten Neonazis und Hooligan-Gruppen begreifen sich als gewaltbereite Delegierte der Pegida-Demonstranten und einer „schweigenden Mehrheit im Lande“. Sie handeln in deren Namen und in ihrem Schutz. Der Status der Migranten in Sachsen hat sich dramatisch verschlechtert, wer anders aussieht und irgendwie fremd anmutet, wird bespuckt, beleidigt oder gar gewaltsam attackiert. Schlimm sind auch die Folgen im bürgerlichen Lager, das im Bemühen, die Motive der Pegida-Leute zu verstehen und aufzugreifen, weiter nach rechts rückt. „Der Islam gehört nicht zu Sachsen“, ließ sich Sachsens Ministerpräsident Tillich vernehmen. Wer solche Sätze in die Mikrophone von Fernsehanstalten spricht, darf sich nicht wundern, wenn im Schutz der Dunkelheit Flüchtlingsunterkünfte angezündet und Ausländer angegriffen werden.

Götz Eisenberg ist Sozialwissenschaftler und Publizist. Er arbeitete mehr als drei Jahrzehnte lang als Gefängnispsychologe im Erwachsenenstrafvollzug. Er schreibt unter anderem für die „Nachdenkseiten“, das Online-Magazin „Auswege“ und die Tageszeitung „Junge Welt“. In der “Edition Georg Büchner-Club” erschien im Juli 2016 unter dem Titel “Zwischen Arbeitswut und Überfremdungsangst” der zweite Band seiner “Sozialpsychologie des entfesselten Kapitalismus”. Ihm ist der hier veröffentlichte Text entnommen, der aus dem Februar 2015 stammt. Unter dem Titel: “Es ist besser, stehend zu sterben als kniend zu leben! No pasarán!” ist in der “Edition Georg Büchner-Club” im Sommer 2016 auch ein Bändchen zum Spanischen Bürgerkrieg erschienen.

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