Was sollen wir tun?

 in FEATURED, Kultur

Lew Nikolajewitsch Tolstoi

Tolstoi als Wirklichkeitsbeschwörer und politischer FĂŒhrer. Der Autor von „Anna Karenina“ und „Krieg und Frieden“ war nicht nur ein großer literarischer Weltengestalter, sondern privat auch eine Art Guru, jemand, der sich massiv in die Themen seiner Zeit einmischte. Schriften u.a. zum Justizsystem, zum Bodenrecht und zum Tierschutz zeugen davon. Andererseits sah Tolstoi die Problematik von zu pamphlethafter politischer Kunst und warnte, „dass der Ă€sthetischen QualitĂ€t nichts abtrĂ€glicher ist als das Einsickern gesinnungs- und bekenntnishafter Momente.“ Der Literaturwissenschaftler JĂŒrgen Wertheimer behandelt in seinem Kapitel aus „Weltsprache Literatur“ am Beispiel Tolstois die Gestalt des Schriftstellers zwischen Engagement und Kulturschöpfung. (JĂŒrgen Wertheimer)

Gelegentlich sind weltliterarische Beziehungen und BezĂŒge weit mehr als Dokumente einer „bloß“ persönlichen Begegnung. Man könnte eher sagen, die Literatur, der literarische Text ist letztlich nur das Medium eines sehr viel tieferreichenden Kontaktereignisses. Der Kontakt ĂŒber Raum und Zeit hinweg entsteht nicht auf der Basis einer Botschaft, sondern grĂŒndet auf so etwas wie strukturellem Wiedererkennen. Wenn man so will eine mentale Begegnung auf Augenhöge, was den – nicht nur literarischen – Geltungsanspruch betrifft.

Ohne es sich recht eingestehen zu wollen, sucht Tolstoi in Weimar auf den Spuren des zum Monument gewordenen Goethe nach einer imaginĂ€ren Verwandtschaft. Verwandtschaft zwischen zwei Autoren wie sie unterschiedlicher nicht sein können. Hier die Weimarer Legende, Klassizismusikone, dort der charismatische Großgrundbesitzer. Goethe: ein nobles Relikt des 18. Jahrhunderts mit der FĂ€higkeit, Tendenzen und Entwicklungen des 19. Jahrhunderts zu ahnen: Industrialsierung, Kapitalismus, Klassenkonflikte, Maschinenwelt. Tolstoi: ein Archivar des 19. Jahrhunderts mit Vorstellungen und Idealen aus den Arsenalen des 18. Jahrhunderts: der Idee eines rationalistischen Christentums, einer patriarchalisch geordneten, sozial gerechten Welt. Treffen hier Welten aufeinander, oder kommen nicht eher zwei scheinbar unterschiedliche Welten miteinander in BerĂŒhrung?

Beide verbindet das System, sich selbst als Welt zu setzen, die Welt in sich zu verkörpern. Bei Goethe war es die FĂ€higkeit, eine Art von Haltung der Welt gegenĂŒber einzunehmen. Eine Art von professionellem Nichtengagement. Vielleicht die sozialisierte Art und Weise, die Welt nicht unmittelbar an sich herankommen zu lassen. Bei Tolstoi findet sich das genaue Gegenteil: den Zustand der Welt genau zu lesen und zu leben: hautnah von ihr berĂŒhrt zu werden, und der Versuch, auf sie Einfluss zu nehmen. 1828 in JĂĄsnaja PoljĂĄna geboren, wird Leo Tolstoi nahezu sein ganzes Leben im Bannkreis seines Gutes verbringen und von dort aus versuchen, die Welt zu verĂ€ndern. Immer wieder wird ihn dabei die Frage „Was soll man tun?“ beschĂ€ftigen. Umtreiben. So heißt auch seine 1886 beendete Denkschrift: „Was sollen wir tun?“ Tolstoi zitiert hier nicht nur das Lukas-Evangelium, sondern die Fragen, um die beinahe die gesamte russische Literatur des 19. Jahrhunderts kreist.

Ausgehend von den bedrĂŒckenden Einsichten in die Welt der Bettler und Huren, der Trunksucht und Verelendung, die er als Teilnehmer an der VolkszĂ€hlung von 1882 in Moskau gewonnen hat, konstatiert er: Wir leben falsch! und leitet mit faszinierendem Radikalismus umfassende Reformen auf allen Lebenssektoren ein. Tankred Dorst spielt und spinnt in seinem gleichnamigen StĂŒck (Was sollen wir tun?) Tolstois Gedanken konsequent weiter und fĂŒhrt sie illusionslos zum bitteren Ende. Gregor Ziolkowski resĂŒmiert:

Selbst im engsten Familienkreis kollidiert die uneigennĂŒtzige Moral, das Verteilen von Eigentum, die Suche nach Gleichberechtigung [
] mit den Schranken der Gesellschaft. Der Alte wird zum schrulligen Eremiten im eigenen Haus. Aber auch der geliebten „Gegenseite“, den Landstreichern, Bauern und Knechten, kann sich der Utopist kaum verstĂ€ndlich machen. So kommt in den Dialogen eine tragikomische Heiterkeit auf, ein jeweiliges Aneinander-Vorbeireden [
].

Auch in einem weiteren StĂŒck, Akrobaten zeigt Dorst die Unvereinbarkeit von Tolstois Morallehren mit der eigenen Zeit auf:

Alexej, der „untolstoianische“ Sohn Tolstois, kommt als mittelloser Emigrant nach Amerika. Von einem inzwischen erfolgreichen Zirkusunternehmer, der vor Jahrzehnten als Tolstoianer den Segen des Alten vor der Abreise erbeten hatte, erhofft er sich Hilfe.

Und erhĂ€lt sie auf groteske Art: Auf Grundlage seiner Ähnlichkeit mit dem Vater, wird Alexej zur lukrativen Theater-Attraktion, zum Show-Act:

Umrankt von russischen Birken soll „Tolstoi“ vor einem Las-Vegas-Publikum stumm auf der BĂŒhne erscheinen, mit eben jenem Blick, den man einst als die Kraft seiner Seele interpretiert hat. Tankred Dorsts „Variationen“ bilden eine Absage an Heilsbotschaften.
So verstĂ€ndlich und vergnĂŒglich diese phantasievolle Absage an Heilsbotschaften jeder Art auch anmutet, sie fĂŒhrt in der Frage nicht weiter. Und diese Frage lautet nach wie vor: Was können wir tun, um die MissstĂ€nde in dieser besten aller möglichen Welten wenn nicht zu beseitigen, so doch zu lindern? Und wie verhĂ€lt sich Moral zu Kunst? Auch hier wĂ€re es einfach und verfĂŒhrerisch, auf die grundsĂ€tzliche ideologische Standpunktlosigkeit literarischer Texte zu verweisen. Auch könnte man anfĂŒhren, dass der Ă€sthetischen QualitĂ€t nichts abtrĂ€glicher ist als das Einsickern gesinnungs- oder bekenntnishafter Momente. Eine Gefahr, der Tolstoi in seinem literarischen Werk kaum je erliegt. Wenn dort Elend, Gemeinheit, Ungerechtigkeit, Verzweiflung und exzessive Gewalt dargestellt werden, so geschieht dies jeweils in einem Gesamtkontext, der das PhĂ€nomen von unterschiedlichen Seiten beleuchtet und darstellt. Anders in Tolstois programmatischen Texten, wo er eindeutig und kompromisslos Position bezieht. In der ErzĂ€hlung „Kreutzersonate“ wird der der Moment des Mordes in eindringlicher Ambivalenz minutiös und schonungslos geschildert:

Da packte ich sie, ohne den Dolch loszulassen, mit der linken Hand an der Kehle, warf sie hinten ĂŒber und begann sie zu wĂŒrgen. Was fĂŒr einen feisten Hals hatte sie doch! Sie faßte mit beiden HĂ€nden nach meinen HĂ€nden, suchte ihren Hals zu befreien, und als wenn ich das erwartet hĂ€tte, stach ich sie aus aller Macht mit dem Dolche unterhalb der Rippen in die linke Seite 

Wenn die Leute behaupten, daß sie in einem Wutanfall nicht wissen, was sie tun, so ist das unsinnig und unwahr. Ich wußte alles, nicht fĂŒr einen Augenblick verlor ich das klare Bewußtsein. Je stĂ€rker ich selbst in mir meine Wut anfachte, desto greller leuchtete das Licht des Bewußtseins in mir auf, das mich alles das deutlich sehen ließ, was ich tat. Ich kann nicht sagen, daß ich alles voraus wußte, was ich tun wĂŒrde, in dem Augenblick jedoch, da ich handelte, ja vielleicht noch ganz kurz vorher, wußte ich, was ich tun wĂŒrde, und hatte gar noch, im Falle des Bereuens, die Möglichkeit, einzuhalten. Ich wußte, daß ich sie unterhalb der Rippen treffen und daß der Dolch dort eindringen wĂŒrde. Im Augenblick, da ich es tat, wußte ich, daß ich etwas Entsetzliches tue, etwas, das ich noch nie getan und das noch furchtbarere Folgen haben wĂŒrde. Aber dieses Bewußtsein fuhr nur wie ein Blitz durch mein Hirn, und diesem Blitz folgte sogleich die Tat. Die Tat selbst spiegelte sich im Bewußtsein mit ungewohnter Grellheit. Ich spĂŒrte den jĂ€hen Widerstand des Korsetts und noch irgendeines Gegenstandes, hörte irgendeinen Laut und fĂŒhlte dann das Eindringen der Klinge ins Weiche. Sie griff mit den HĂ€nden nach dem Dolche, schnitt sich dabei und ließ los. Ich habe spĂ€ter im GefĂ€ngnis, nachdem die sittliche Wandlung sich in mir vollzogen hatte, lange ĂŒber diesen Augenblick nachgedacht und mir davon ins GedĂ€chtnis zurĂŒckzurufen versucht, was ich nur irgend konnte.

Die Episode zeigt anschaulich, mit welcher PrĂ€zision und Dichte unterschiedliche Tat- und Bewusstseinsmomente ineinandergreifen und sich zum Teil konterkarieren. So, dass der Gewaltakt zugleich lustvoll re-evoziert, verurteilt und reflektiert wird. Von all dieser Ambivalenz und Doppelbödigkeit des Durchdringens ist in den programmatischen Texten Tolstois absolut nichts zu spĂŒren. Dieser andere Tolstoi beginnt bereits im Nachwort der eben zitierten Kreutzersonate, wenn er anmerkt:

Der Schluß, der nach meiner Meinung naturgemĂ€ĂŸ daraus zu ziehen ist, geht darauf hinaus, daß man sich dieser Verirrung und TĂ€uschung nicht hingeben dĂŒrfe. Und um sich ihnen nicht hinzugeben, darf man erstens unsittlichen Lehren, durch welche vermeintlichen Wissenschaften sie auch gestĂŒtzt werden mögen, keinen Glauben schenken, und muß zweitens begreifen, daß die Unterhaltung eines Geschlechtsverkehrs, bei dem die Geburten absichtlich verhindert werden oder die Sorge fĂŒr die Kinder auf die Frauen abgewĂ€lzt oder die Möglichkeit des GebĂ€rens von vornherein verhindert wird – daß ein solcher Geschlechtsverkehr eine Übertretung der einfachsten Forderung der Sittlichkeit, mithin selbst eine Unsittlichkeit ist, und daß ledige Leute, die nicht unsittlich leben wollen, sich dieses Verkehrs enthalten mĂŒssen.

Der einfĂŒhlsame Analytiker der ErzĂ€hlung verwandelt sich in gleichermaßen naiven wie erfahrenen Katecheten – und es macht wenig Sinn, den einen gegen den anderen auszuspielen. Fakt ist, beide Seiten sind Teile einer Persönlichkeit und die WirkmĂ€chtigkeit des PhĂ€nomens Tolstoi ergibt sich aus dem Zusammenspiel beider Komponenten. Und Tolstoi weiß, dass er mit dieser Doppelsignatur leben muss. So notiert er am 21. September 1884:

Ich dachte viel an mich. Ich bin ein Ă€ußerst schlechter und lasterhafter Mensch. Ich habe alle Laster und diese zu einem hohen Grad: Neid, Habsucht, Gemeinheit, Sinnlichkeit, Eitelkeit, Ehrgeiz, Stolz und Bosheit. Nein, nicht Bosheit. Meine einzige Rettung ist, daß ich weiß, wie ich bin und ich kĂ€mpfe, ich habe mein ganzes Leben dagegen gekĂ€mpft. Deswegen nennen sie mich einen Psychologen.“

Schon im April 1876 – wĂ€hrend der Arbeit an Anna Karenina – kommt diese fast schizophrene SĂŒchtigkeit nach Sinnsuche in einem Brief an eine Freundin noch stĂ€rker zum Ausdruck:

Sonderbar und entsetzlich ist es auszusprechen, ich glaube an nichts, an nichts, was von der Religion gelehrt wird, und gleichzeitig hasse ich nicht nur den Unglauben, sondern verachte ihn. Ich kann nicht begreifen, wie man ohne Glauben leben kann, und noch weniger, wie man ohne Glauben sterben kann. Ich konstruiere mir allmĂ€hlich meine eigenen Glaubensinhalte, aber wie sicher ich ihrer auch sein mag, sie sind nicht sehr sicher und ĂŒberzeugend. Wenn mein Verstand fragt, ist die Antwort zufriedenstellend; aber wenn mein Herz leidet und einer Antwort bedarf, bekommt es weder UnterstĂŒtzung noch Trost.

So greifen Selbstbeobachtung und Selbsthass, obsessive Egomanie und ĂŒberbordender Altruismus auf eine bisweilen verstörende Art ineinander. Hass auf die Gesellschaft und Such nach ihr gehören ebenso zu diesem Lebensroulette wie SelbstvorwĂŒrfe und qualhaft akribische Dokumentation wie in diesem Tagebuch von 1851:

31. MĂ€rz: Kein Tagebuch gefĂŒhrt, gelesen, wenn auch spĂ€t. Bis 12 ĂŒber Rechnungen gesessen. Von 12 bis 2 mit Begitschew gesprochen, viel zu offen, voll Eitelkeit und mich selbst betrĂŒgend. Von 2 bis 4 Turnen. Zu wenig HĂ€rte und Geduld. Von bis 6 zu Mittag gegessen und unnötige EinkĂ€ufe gemacht. Zu Hause nichts geschrieben, Faulheit. Konnte mich lange nicht entschließen, zu den Wolkonskis zu fahren. Dort dann ohne Mark gesprochen. Feigheit. Habe mich schlecht gehalten. Feigheit, Eitelkeit, UnĂŒberlegtheit, SchwĂ€che, Faulheit [
] 5. April, Pirogowo: Am Vormittag gut gearbeitet, dann auf die Jagd und nach Pirogowo gefahren, ohne rechten Grund. Bei Serjosha habe ich gelogen, war eitel und feige. Arbeitsplan fĂŒr den 6. Von 5 bis 10 schreiben. Von 10 bis 11 Messe. Von 12 bis 4 Mittag. Von 4 bis 6 lesen. Von 6 bis 10 schreiben.
6. April: Nichts erfĂŒllt. Habe gelogen, war sehr eitel und in der Kirche ganz und gar nicht bei der Sache. [
] 17. April: Nichts geschrieben – die Faulheit hat gesiegt! [
] 18. April: Konnte mich nicht bezĂ€hmen, machte einem rosafarbenen Wesen, das mir aus der Entfernung sehr schön erschien, ein Zeichen und öffnete hinten die TĂŒr. Sie kam. Ich kann sie nicht ausstehen, spĂŒre Widerwillen, Ekel, ja Haß, weil ich ihretwegen meinen Regeln untreu werde. Überhaupt empfinden wur gegen Menschen, denen wir nicht zeigen können, daß wir sie nicht mögen, und die zu der Annahme berechtigt sind, wir hegten Zuneigung fĂŒr sie, ein GefĂŒhl, das sehr dem Haß Ă€hnelt. – PflichtgefĂŒhl und Abscheu sprachen dagegen. LĂŒsternheit und Gewissen dafĂŒr. Letztere behielten die Oberhand.
Entsetzliche Reue; habe sie noch nie so heftig empfunden. Das ist ein Schritt nach vorn.

Die Suche, ja Sucht nach dem richtigen Weg kennt keine RĂŒcksicht – bis ĂŒber die Grenze der LĂ€cherlichkeit hinaus: der wohl glaubwĂŒrdigste Beweis fĂŒr die Echtheit einer Haltung. Als Narr in Christo krempelt er im Bauernkittel sein Gut um und versucht mit gleichem Ernst die ganze Welt zu revolutionieren. Konfrontiert mit einer Gesellschaft aus Posen und einer Kunst aus Posen und Imitaten unternimmt er es nach den Originalen zu suchen. Tolstoi wird seine rĂŒckwĂ€rtsgewandte Utopie der „Volkskunst“ kreieren. Eine Kunst, deren einziger Maßstab in einer erlösenden Befreiung aus der sterilen Hermetik der kopierten GefĂŒhle zu suchen ist. Auf der Basis der kollektiven Vermittlung „aufrichtiger“ (nicht „schöner“ oder „guter“) GefĂŒhle soll eine neue emotionale Kultur der Aufrichtigkeit entwickelt werden; soll jener sozialisierende Effekt angeregt werden, der auf der Basis einer Schule der Affekte in „Befreiung der Persönlichkeit aus der Isolierung“, im „Verschmelzen der Persönlichkeit mit anderen“ (so in Was ist Kunst?) seine Zielvorstellung andeutet.

Auch im Inneren des Romanwerks versucht der Moralist Tolstoi eine Alternative zu skizzieren, ohne auf ein billiges Schwarz-Weiß-Schema ausweichen zu mĂŒssen. Er schildert ja auch nicht nur eine Zweier- oder Dreier-Beziehung, sondern leuchtet ein ganzes gesellschaftliches Panorama mit sehr vielen Figuren aus. Unter ihnen als Kontrast- und Vergleichspaar herausragend Lewin und Kitty; zwei, die ich aus dem Society-Sog herauslieben. Auch oft am Rand des Selbstmords. Beinahe aufgerieben. Doch nur beinahe, – bevor Lewin und auch Kitty ihre Existenz, ihre Rolle im Leben von Grund auf neu zu definieren beginnen: er als Bauer und Teil des „Volkskörpers“, sie als Mutter. Sicher: Der Roman begibt sich hier in die NĂ€he des Gesinnungshaften: Glaube, Hoffnung, Liebe tauchen allmĂ€hlich, wie etwas lĂ€ngst Vergessenes, kaum mehr Erinnertes im kollektiven Halbbewusstsein der Seelen wieder auf. Im Fall von Tolstois großem Werk ist das mit peinlichen GefĂŒhlen verbunden, nicht aufgesetzt. Denn Lewin und Kitty arbeiten, leben und lieben sich in ihre neuen LebensentwĂŒrfe quĂ€lerisch, selbstquĂ€lerisch, nicht widerspruchsfrei und mit großer Ernsthaftigkeit hinein. Ebenso ernsthaft und radikal wie ihr Autor, der keine Idylle oder Liebe auf christlicher Sparflamme predigt. Oder etwas irgendwie vernĂŒnftelnd Kastriertes, KleinbĂŒrgerlich-Religiöses.

Und Tolstoi wusste, wovon er sprach. Seine persönliche Kreutzersonate mit seiner Frau fĂŒllt TagebuchbĂ€nde. So notiert er fast in der Art einer Emma Bovary: „Als ich mich heute meiner Hochzeit erinnerte, dachte ich, es war eine Art VerhĂ€ngnis. Ich bin auch nie verliebt gewesen. Musste aber unbedingt heiraten.“ Der Rest ist Leiden: Vierzig Jahre Kampf, Krampf, Hass, SchuldgefĂŒhl, ReueanfĂ€lle, Selbstmorddrohungen, Verfolgungen, Versöhnungen, Fluchten, RĂŒckkehren; Betrug, Verfluchung, Verzeihung, Schwangerschaft in Folge. All das mutet gelegentlich tragikomisch an. Freilich nur aus der Entfernung. Aus der NĂ€he erlebt ist es die Hölle. Nein, da ist sich Tolstoi sicher, innerhalb des Regelwerks der haltlosen Fassadengesellschaft, die er kannte, war keine Lösung zu erwarten: Wo die OberflĂ€che einer Sache vergöttert und die Substanz verkauft wird, ist nichts zu erhoffen. Diese Privatkatastrophen und diese Katastrophen des Privaten sind auch und vor allem ein KlassenphĂ€nomen. Die „Internationale“ der Bourgeoisie hatte die Menschen im Griff. Im WĂŒrgegriff, ob in Moskau oder Paris. Sie, die Gesellschaft, verwaltet und beherrscht selbstredend auch den Kunstmarkt, ja, betrachtet Kunst als Markt.

Tolstois Ziel: Die Kunst wieder den Gesetzen des Marktes zu entreißen und ihrer eigentlichen Aufgabe zuzufĂŒhren. Er weiß sowohl, was der Auftrag von Kunst ist, als auch, was nicht zu ihrer Bestimmung gehört – wenngleich sie genau mit diesen Mitteln Erfolg hat und die Massen bedient. In seinem schon zitierten Aufsatz Was ist Kunst von 1898 schreibt er:

Ein einmal empfundenes GefĂŒhl erneut in sich hervorzurufen und, hat man es in sich hervorgerufen, es vermittels Bewegungen, Linien, Farben, Tönen oder in Worten ausgedrĂŒckter Bilder so wiederzugeben, daß andere ganz das gleiche GefĂŒhl empfinden – hierin besteht das Wirken der Kunst. Kunst ist eine menschliche TĂ€tigkeit, die darin besteht, daß ein Mensch durch bestimmte Ă€ußere Zeichen anderen die von ihm empfundenen GefĂŒhle bewußt mitteilt und daß andere Menschen von diesen GefĂŒhlen angesteckt werden und sie erleben. [
] Kunst ist nicht, wie die Metaphysiker sagen, die Manifestation irgendwelcher geheimnisvollen Ideen von Schönheit oder Gott; sie ist nicht, wie die Ă€sthetischen Physiologisten sagen, ein Spiel in dem der Mensch seinen Überfluß an aufgestauter Energie entlĂ€dt; sie ist nicht der Ausdruck der Emotionen des Menschen durch Ă€ußere Zeichen; sie ist nicht die Herstellung gefĂ€lliger Objekte; und sie ist vor allem kein VergnĂŒgen; sondern sie ist ein Mittel der Einung der Menschen, indem sie sie in gleichen GefĂŒhlen aneinander bindet, und sie ist unerlĂ€ĂŸlich fĂŒr das Leben und den Fortschritt der einzelnen und der Menschheit zum Guten. [
] Kunst ist eine menschliche TĂ€tigkeit, die darin besteht, daß ein Mensch bewußt, mit Hilfe Ă€ußerer Zeichen, anderen GefĂŒhle vermittelt, die er durchlebt hat, und daß die anderen von diesen GefĂŒhlen angesteckt werden und sie ebenfalls an sich erfahren. [
] eines anderen Freude zu genießen, den Kummer eines anderen schmerzlich zu empfinden und die Seelen miteinander zu vermischen [
]

Der absolute Primat auf das GefĂŒhl, das gemeinschaftlich hervorgerufene und auf ein Kollektiv ĂŒbertragene echte GefĂŒhl, ist Tolstois wichtigstes, ja, einziges Kriterium, um Kunst zu beurteilen. Wieder und wieder repetiert und erweitert er das Credo seiner „volksnahen“ Poetik in einer Vielzahl Ă€sthetischer Schriften, wobei der klassenkĂ€mpferische soziale Aspekt immer stĂ€rker hervortritt:


 dann wird verstĂ€ndlich, daß echte Kunst nicht eine Kunst sein kann, die einer exklusiven Minderheit gefĂ€llt, sondern die, die der arbeitenden Mehrheit gefĂ€llt, da heißt auf sie wirkt. (aus: Über das, was Kunst genannt wird)

Ein nicht unproblematischer Denkweg, der ihn in eine ideologisch nicht unbedenkliche antiformalistische und kollektivistische Richtung fĂŒhrt:

Deswegen sind das kĂŒnftige Vollkommenheitsideal nicht die ExklusivitĂ€t [
] sondern ganz im Gegenteil KĂŒrze, Klarheit und Einfachheit des Ausdrucks. Und erst dann [
] wird sie zu dem, was sie sein soll – ein Werkzeug, das religiös-christliches Bewußtsein aus dem Bereich der Vernunft, Urteilskraft und GefĂŒhl versetzt und die Menschen dadurch in der Wirklichkeit, im Leben selbst jener Vollkommenheit und Einigkeit nĂ€herbringt [
] (Ästhetische Schriften, S. 212)

Auch krasse Fehlurteile, wie etwa seine radikale Ablehnung Shakespeares als unnatĂŒrlich, elitĂ€r und verkĂŒnstelt. Ich meine dennoch, dass dies alles, der Don-Quichote-artige Kampf gegen meisterliche Formen, artistische VirtuositĂ€t, die punktuell von ihm selbst durchschaute WidersprĂŒchlichkeit und Hilflosigkeit bei der Kontaktaufnahme mit dem Prekariat zum unverwechselbaren Profil dieses KĂŒnstlers integral gehört. Kein Geringerer als Lenin bestĂ€tigt in seiner kritischen, klarsichtigen WĂŒrdigung due innere WidersprĂŒchlichkeit als Signatur und Spiegelung der Befindlichkeit nicht nur des Autors, sondern der russischen Gesellschaft. In Tolstoi im Spiegel der Russischen Revolution schreibt er:

In den Werken, Anschauungen, Lehren und in der Schule Tolstojs sind tatsĂ€chlich schreiende WidersprĂŒche enthalten. Einerseits ein genialer KĂŒnstler, der nicht nur unvergleichliche Bilder aus dem russischen Leben, sondern auch erstklassige Werke der Weltliteratur geliefert hat. Anderseits ein Gutsbesitzer, der sich als Narr in Christo gefĂ€llt. Einerseits ein wunderbar starker, unmittelbarer und aufrichtiger Protest gegen gesellschaftliche Verlogenheit und Falschheit, anderseits ein „Tolstojaner“, das heißt ein verschlissener, hysterischer Jammerlappen, der sich russischer Intellektueller nennt, sich öffentlich an die Brust schlĂ€gt und sagt: „Ich bin schlecht, ich bin ekelhaft, aber ich lasse mir die sittliche Selbstvervollkommnung angelegen sein: ich esse kein Fleisch mehr nĂ€hre mich jetzt von Reiskoteletts.“ [
] Daß Tolstoj angesichts solcher WidersprĂŒche sowohl die Arbeiterbewegung und ihre Rolle im Kampf fĂŒr den Sozialismus als auch die russische Revolution absolut nicht verstehen konnte, liegt [
] auf der Hand. Aber die WidersprĂŒche in den Anschauungen und Lehren Tolstojs sind keine ZufĂ€lligkeiten, sie sind vielmehr ein Ausdruck jener widerspruchsvollen VerhĂ€ltnisse, in denen sich das russische Leben des 19. Jahrhunderts abspielte. Das patriarchalische Dorf, gestern erst von der Leibeigenschaft befreit, wurde dem Kapital und dem Fiskus buchstĂ€blich mit Haut und Haar zur AusplĂŒnderung ĂŒberlassen.

Der ergreifende Bericht Tolstojs ĂŒber die die erwĂ€hnte VolkszĂ€hlung markiert im Übrigen mit großer Klarheit die Grenzen und Zuwendungspannen, wenn Graf und Gosse zusammenzukommen versuchen. Freilich zeigt er sich von diesen Anfangsschwierigkeiten unbeeindruckt und erprobt im Weiteren auf seinem Gut eine ganze Reihe ĂŒberaus konkreter Maßnahmen wie die Einrichtung neuartiger KindergĂ€rten und Schulen. Dabei inspirieren und motivieren ihn auch kleinste Erfolge. Wie beispielsweise diese Episode, weil er hier erste Regungen autonomen Sprechens und Denkens zu beobachten glaubte:

Neulich gelang es mir, ein solches AufblĂŒhen des VerstĂ€ndnisses bei einem sehr schĂŒchternen MĂ€dchen zu beobachten, die einen ganzen Monat geschwiegen hatte. Herr U. erzĂ€hlte, und ich war Zuhörer und Beobachter. Als alle zu erzĂ€hlen begannen, bemerkte ich. daß Marsutka von der Bank herabkroch mit einer Bewegung, die anzuzeigen pflegt, daß der ErzĂ€hler aus dem Zustand des Zuhörers in den des ErzĂ€hlers ĂŒbergeht, und sie kam nĂ€her. Als alle zu schreien anfingen, sah ich mich nach ihr um, sie bewegte ihre Lippen kaum merklich, ihre Augen aber waren voller Gedanken und voller Leben. Als unsere Blicke sich begegneten, senkte sie die Augen. Nach einer Minute sah ich wieder nach ihr: Sie murmelte wieder etwas vor sich hin. Ich bat sie, mir doch etwas zu erzĂ€hlen, da wurde sie ganz verlegen. Nach zwei Tagen konnte sie schon ganz vortrefflich ganze Geschichten erzĂ€hlen. (PĂ€dagogische Schriften II, S. 102)

Sein leidenschaftlicher Kampf gegen elitĂ€res Bildungsgehabe, gegen „Verdummung“ und „VerkrĂŒppelung“ gilt auch den Exzellenzentren seiner Zeit, in denen er Legebatterien der Produktion von UniformitĂ€t sieht. All diesen Institutionen liege nĂ€mlich, so Tolstoi, der Gedanke zugrunde einer kleinen Anzahl von Menschen zuzugestehen, aus anderen genau solche Menschen zu machen, wie sie wollen. (PĂ€dagogische Schriften I, S. 162) Erziehung ist in seinen Augen Zwangsbildung; ein zum Prinzip erhobenes Streben nach sittlichem Despotismus ((S. 151)) sei eine Art mentaler „Vergewaltigung“.

Sein pĂ€dagogisches Prinzip des hellsichtigen „Nichteingreifens“, des behutsamen Sondierens und Forschens nach Potentialen und Ermutigung von AnsĂ€tzen eigener Berufungsmöglichkeiten verdiente es auch heutzutage wahr- und ernstgenommen zu werden – ohne dass BefĂŒrworter dieser Ideen und Werte diffamierend als „Tolstojaner“ abgestempelt werden. Denn man muss kein „Tolstojaner“ sein, um den wahrhaft weltumspannenden Charakter seiner Mission wĂŒrdigen zu können. Es ist kein Zufall, dass sich zwischen ihm und Gandhi ein sich ĂŒber mehrere Jahre erstreckender Briefwechsel ĂŒber die Prinzipien des gewaltfreien Widerstands entwickelte. Die verwegen erscheinende Vermischung von Krischna-Zitaten, christlichen Maximen und politischer Analyse sollte nicht ĂŒber die Ernsthaftigkeit des Unterfangens hinwegtĂ€uschen. Er lieferte einen wichtigen Impuls im Verlauf des indischen Kampfes um Autonomie, der 1947 tatsĂ€chlich zum Ende der britischen Kolonialherrschaft fĂŒhren sollte.

 

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Über einzelne Werke der Literatur zu schreiben, ist das eine; treffsichere Formulierungen ĂŒber Literatur als Ganzes – ihr Wesen, ihre Funktion und ihre Verbindung mit anderen gesellschaftlichen KrĂ€ften – zu finden, ist dagegen eine besondere Kunst. JĂŒrgen Wertheimer ist prĂ€destiniert dafĂŒr. Er ist Professor fĂŒr Neuere Deutsche Literatur und Komparatistik in TĂŒbingen, ein aufstachelnder Vortragsredner und dabei politisch nicht abstinent. Nun ist also sein gewichtiges Buch ĂŒber Weltliteratur erschienen, ein Musterbeispiel fĂŒr vergleichende Literaturbetrachtung. Denn Goethe war gut, aber wer die frische Luft des „Fremden“ geschnuppert hat, dem wird es in der UmzĂ€unung seiner Nationalliteratur schnell zu eng. Er lernt, wie eines zum anderen gehört – ein Netz gegenseitiger Beeinflussung – und wie das universell Menschliche in jeder Maske und kulturellen FĂ€rbung durchbricht. (Roland Rottenfußer)

 „Doch gerade in einer Zeit, in der die Kategorien der Religion unverbindlich bzw. gefĂ€hrlich, die der Politik unverbindlich bzw. aggressiv, die der Wirtschaft freundlich-destruktiv geworden sind, brauchen wir Welt-Literatur. Und zwar weder als Narkotikum noch als Ersatzreligion noch als elitĂ€res Kulturgehege. Sondern als blickscharfe, sprachgenaue, phrasenfreie Denk- und Wahrnehmungsschule fĂŒr jede und jeden, der lesen kann und will und muss.“

 Komparatisten vergleichen. Literatur mit Literatur. Texte verschiedenster Zeitepochen, Sprachen und Kulturen. Verschiedene Übersetzungen ein- und desselben Gedichts. Manchmal sogar die Literatur mit anderen kĂŒnstlerischen Genres wie Musik und Malerei. Die Komparatistik als akademischer Zweig macht ein verbreitetes Manko der literaturwissenschaftlichen Arbeit wett, die zugleich auch politisch eher geistesverengend wirkt: die Überbetonung des Nationalen. Warum etwa sollten wir Fontanes grandiosen Gesellschafts- und Ehebruchsroman „Effi Briest“ preisen, Flauberts thematisch verwandten Klassiker „Madame Bovary“ oder Tolstois „Anna Karenina“ dagegen ignorieren, sofern wir die Grenze zwischen den „Nationalliteraturen“ ĂŒberwinden können: durch Sprachen lernen oder die Verwendung einer Übersetzung?

Da wĂ€chst zusammen, was nie hĂ€tte getrennt werden dĂŒrfen. Weltliteratur ist das Stichwort. Wobei dem vergleichenden Betrachten noch ein viel essenziellerer Schritt vorgeschaltet ist: die Literatur anderer Sprachen und Kulturen ĂŒberhaupt zur Kenntnis zu nehmen und als prinzipiell gleichberechtigt mit der „eigenen“ anzuerkennen. Das ist vom Prinzip her nichts Anderes, als was Integration und Inklusion heute auf der Ebene des praktischen Handelns von uns verlangen.

Weltliteratur – das bedeutet mehr, als unsere aus Böll, Thomas Mann und Kafka bestehende LektĂŒreliste gelegentlich durch „Schuld und SĂŒhne“, „Jenseits von Eden“ und eine „Lear“-AuffĂŒhrung im Stadttheater zu ergĂ€nzen. Dies kann es auch bedeuten. Aber wirkliche Kenntnis der Weltliteratur wĂŒrde erfordern, sich – im Rahmen der verfĂŒgbaren Lebenszeit – mit der Literatur Indiens, Chinas und des islamischen Kulturkreises vertraut zu machen. Mit der griechischen Antike ebenso wie mit neueren spannenden Erzeugnissen des sĂŒdamerikanischen Kontinents: GarcĂ­a MĂĄrquez und Vargas Llosa etwa. Es bedeutet, nicht nur ĂŒber den Untertassenrand der Germanistik hinauszuschauen, sondern auch ĂŒber den darunter liegenden Tellerrand der gut erschlossenen benachbarten europĂ€ischen Literaturen.

Ohnehin haben wir es, wie JĂŒrgen Wertheimer sehr deutlich macht, nicht nur mit den nebeneinander gestellten statischen „Blöcken“ der einzelnen Nationalliteraturen zu tun, sondern mit einem fließenden System vitalen Austauschs und gegenseitiger Beeinflussung – vorangetrieben durch die Schreibenden selbst, die in aller Regel auch begeisterte Lesende waren. Selbst wer mit Literaturbetrachtung nur am Gymnasium konfrontiert war, kennt Komparitistik. Wenn er zu seinem Leid- oder Freudwesen z.B. eine Aufgabe wie diese gestellt bekam: „Vergleichen Sie die unterschiedliche Deutung der Jeanne d’Arc-Figur in den Werken von Schiller, Anouilh und Brecht!“

Das war und ist höchst lohnend, so dass Bildungsnahe geneigt sind, JĂŒrgen Wertheimer zuzustimmen, wenn er in seiner EinfĂŒhrung schreibt: „Eine Welt ohne Antigone und Emma Bovary, ohne Werther und Macbeth ist kaum vorstellbar“. Es mag sein, dass dieses Statement ein wenig zu kulturoptimistisch anmutet in einer Zeit, in der Filme wie „Fack ju Göthe“ reĂŒssieren und der Big-Brother-Kultstar Zlatko ungestraft trĂ€llern durfte: „Ob nun Shakespeare oder Goethe, die sind mir doch scheißegal“. Aber gerade deshalb gilt es doch, ein Gegengewicht zu schaffen und nicht hinzunehmen, wie sich viele Zeitgenossen in die von Medien und Politik beförderten Verdummungsprozesse gleichsam hineinsinken lassen.  Wertheimer vergleich vieles, aber das Triviale und bloß PopulĂ€re bleibt als Vergleichsobjekt weitgehend außen vor – ein sinnvoller Akt der SelbstbeschrĂ€nkung, denn „Weltsprache Literatur“ ist ein im buchstĂ€blichen wie ĂŒbertragenen Sinn gewichtiges Werk.

Das Frappierende an diesem Buchtitel ist, dass er uns zunĂ€chst gar nicht einleuchtet. Die Weltsprache – wenn man es nicht beim Englischen oder bei Esperanto belassen will –, das ist doch vor allem die Musik. Sie ĂŒberwindet alles Sprachgrenzen, und auch, wer des Italienischen ĂŒber Urlaubsphrasen wie „Buon giorno“ hinaus nicht mĂ€chtig ist, versteht ganz unmittelbar die Schmerzwonnen, von denen die Opernfiguren Puccinis oder Verdis ĂŒberflutet werden. Hier provoziert Wertheimer gleich zu Anfang: „Weshalb sollte der Begriff Weltsprache Literatur nicht so selbstverstĂ€ndlich sein wie der der Weltsprache Musik?“ Diese Frage mĂŒndet als erste Antwort in ein Lob des GeschichtenerzĂ€hlens. „Ohne die Geschichten und Figuren der Literatur fehlt uns der SchlĂŒssel zum Verstehen der ZusammenhĂ€nge, der Bedeutungen, der Zugang zu den GefĂŒhlen und Gedanken der Bewohner dieser Kulissen.“ Die Literatur als Raum- und Zeitkapsel, als Zugang zur Gesamtheit menschenmöglicher GefĂŒhle, Gedanken und Dramen – und zwar weltweit sowie geschlechter- und klassenĂŒbergreifend.

JĂŒrgen Wertheimer ist derzeit Professor in TĂŒbingen. Ich selbst habe in seiner MĂŒnchner Zeit bei ihm studiert und ihn als rhetorisch mitreißenden Danton der Literaturbetrachtung kennen gelernt. Ich kann denjenigen unter meinen Leserinnen und Lesern, die sich quasi als Mitstudierende Teile der Weltliteratur zu erschließen versuchen, nur raten: Lest es, die LektĂŒre ist ĂŒberaus anregend und erhellend. Sie schult in weit ausgreifendem und vernetztem Denken – dies in einer Zeit, die eher Spezialisierung und Geistesverengung als markttaugliche Produktionsfaktoren goutiert.

Literaturwissenschaft ist Widerstand, wenn sie so betrieben wird, also nicht als Museumsrundgang zwischen Stein gewordenen SĂ€ulenheiligen des Literaturkanons, sondern als Aufruf, mit und in Literatur zu leben. Mythen mischend und Zerrbilder zertrĂŒmmernd, deutet Wertheimer Literatur – auch Jahrhunderten alte – immer als etwas eminent GegenwĂ€rtiges, das uns zum MitfĂŒhlen und Mitdenken, zum schwĂ€rmenden, zweifelnden, gelegentlich DenkmĂ€ler bepinkelnden Lebensvollzug auffordert. „Doch die Literatur ist nicht nur Archiv der Vergangenheit, sondern auch Wegweiser durch die Gegenwart. Einer plurikulturellen Gegenwart der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, des vehementen Aufeinanderprallens von GegensĂ€tzen wie auch universalistischer Vision einer Weltkultur.“

Man erkennt schon an diesem Absatz, dass Wertheimers Buch alles andere als das germanistische Pendant zu Sarrazins „Deutschland schafft sich ab“ sein möchte. Anspruchsvoll und den Wortschatz erweiternd, widersagt es dennoch allem DĂŒnkelhaften, das im ausschließlichen Besteigen Weimarer „HöhenkĂ€mme“ lĂ€ge. Literatur ist immer Anwalt des Einzelnen gegen die ihn vereinnahmenden Manipulations- und Menschenvernutzungssysteme. Denn so verschieden Geschriebenes auch sein mag – „im Kern gibt es eine ĂŒberraschende Übereinstimmung. Sie ist immer PlĂ€doyer fĂŒr den Einzelnen, die individuelle Wahrnehmung und das Recht auf mögliche Um- und Irrwege und die fantasievolle KĂŒnstlichkeit dessen, was wir ‚Wirklichkeit‘ nennen.“ Man ĂŒberprĂŒfe dieses Statement anhand beliebiger Literatur-„Helden“ – von Antigone bis Don Quixote, von Eichendorffs „Taugenichts“ bis zu Etienne Lantier, dem Protagonisten von Zolas Sozialroman „Germinal“.

Literatur, wie sie Wertheimer versteht, ist nicht Weltflucht-Hilfe und Anleitung zur beschaulicher FĂŒgsamkeit. Sie reprĂ€sentiert vielmehr „einen basisdemokratischen Prozess der Fremd- und Selbsterfahrung, zumeist am Ă€ußersten Rand des Erlaubten und Denkbaren.“ Gute Literatur beinhaltet Welt, ohne zur Hinnahme der in dieser Welt vorgefundenen Gegebenheiten zu verfĂŒhren. „Auch weil sie in diesen Zeiten der mitunter paranoiden Ängste auf den Menschen setzt und dessen WĂŒrde – jenseits alles Phrasenhaften – bedingungslos verteidigt.“ Es ist ein großer emanzipatorischer Anspruch, den Wertheimer aus Weltliteratur heraus- und in sie hineinliest.

EinwĂ€nde vorwegnehmend, rechtfertigt sich der Autor: „Alles, was man gegen dieses Buch vorbringen können wird, kann man auch gegen die ‚Welt wie sie ist‘ vorbringen. Es ist sprunghaft, inhomogen, redselig und fragmentarisch zugleich.“ Eine chrono-logische Vorgehensweise darf man nicht erwarten, wenn etwa Kafkas „Amerika“ dem Gilgamesch-Epos vorausgeht, woraufhin der Autor von „Tausend-und-eine-Nacht“ ĂŒber Shakespeares „Sturm“ zum indischen Nationalepos „Mahabarara“ springt. „Göttliche Komödie“ (Dante) trifft auf „Menschliche Komödie (Balzac), Odysseus“ (Homer) auf „Ulysses“ (Joyce).

Besonders anregend – und fĂŒr religiöse Wahrheitsbesitzer irritierend – ist Wertheimers Art, die BrĂŒcke zwischen Literatur und Religion zu schlagen. Der erklĂ€rte AufklĂ€rer, der sich in politischen Reden nicht scheut, Lessings Ringparabel (aus „Nathan der Weise“) gegen Fanatiker jeglicher Couleur in Stellung zu bringen, stellt die Verbindung auf ziemlich brĂŒske Weise her: Religion ist Kunst, weil sie kĂŒnstlich ist. „Es gibt Texte, ‚Heilige Texte‘ gibt es natĂŒrlicherweise nicht. Heiliggesprochene Texte wurden und werden von Menschen gemacht, genau wie Heilige von Menschen gemacht werden. Und alle Werte, so gottgewollt sie erscheinen, sind aus Worten gemacht, bilden einen Dom aus Worten, wie Nietzsche es benennt.“ Und noch respektloser: „Verlagstechnisch betrachtet ist die Bibel wohl das, was man einen internationalen Longseller nennt“.

Der Autor liest Texte aus der Bibel also, ohne Weihrauchgewölk zu verbreiten. Das ermöglicht einen unvernebelten Blick. Im Einklang mit dem zuvor erwĂ€hnten Philosophen bricht er mit Gott, „der mit Abstand wirkmĂ€chtigsten menschlichen Kreation.“ Skandalöser noch im Abschnitt ĂŒber die Evangelien, die Wertheimer nicht dem Bibelkapitel zuordnet, sondern ausgerechnet jenem ĂŒber orientalische MĂ€rchen. „Könnte man das Neue Testament vielleicht sogar als frĂŒhen VorlĂ€ufer des modernen Romans bezeichnen?“ Die ErzĂ€hlhaltung multiperspektivisch, der Protagonist unglĂŒcklich, gebrochen, dennoch ein „SympathietrĂ€ger“, ein Held nachgiebiger Innerlichkeit, stark nicht mit dem Schwert, sondern mit zĂŒndender Rhetorik.  NatĂŒrlich handelt es sich – daran lĂ€sst der Literaturexperte keinen Zweifel – bei Jesus um einen erfundenen Helden. „Literatur hat immer etwas mit Schwindel zu tun.“ Da wird dem Leser schwindelig.

Konsequenterweise wird auch der Koran nicht geschont, den der Autor uncharmant mit der Betrachtung des Skandals um Rushdies „Satanische Verse“ kombiniert. Hier setzt Wertheimer gegen den zeitgeistgemĂ€ĂŸen „Kulturkampf“ der Abendlandbewahrer das Modell gegenseitiger kultureller Befruchtung, wobei der Strom der Inspiration klar eher von Nahost nach Nordwest floss. „Geht Europa jenseits des Hindukusch weiter, reicht es gar bis zum Hindukusch – wo wir Deutschland verteidigen, um einen gut gemeinten Politikersatz zu zitieren? Oder steckt die erhellende Einsicht dahinter, dass die abendlĂ€ndische Wertegemeinschaft insgesamt das Produkt mittelöstlicher, mediterraner Mythen ist?“ Die leitkulturelle Seinsweise des MitteleuropĂ€ers, so macht Wertheimer klar, ist eine zusammengesetzte, ein Patchwork mehr als ein einheitliches Gebilde, das es mit geistigen Mauern gegen andrĂ€ngende OsmanenstĂŒrme zu verteidigen gĂ€lte.

Auch der einseitigen Idealisierung des „Fremden“ enthĂ€lt sich JĂŒrgen Wertheimer jedoch, wenn dieses dem Grundwert vernĂŒnftiger HumanitĂ€t widerspricht. „Der Westen lĂ€sst sich eine Diskussion aufdrĂ€ngen, die lĂ€ngst nicht mehr die seine ist“, hĂ€lt er jenen entgegen, die mit ĂŒberschießender Toleranz selbst die Konzepte islamistischer Glaubensdiktaturen zu verstehen suchen. Da ist Wertheimer ein scharfzĂŒngiger Settembrini wehrhafter HumanitĂ€t. „Was in aller Welt bringt uns eigentlich dazu, Religionszugehörigkeit zur obersten Richtschnur des politischen Daseins zu machen?“ Im Koran dominiere „der Ton der Alternativlosigkeit, eines Diktats, das keine Ausreden gelten lĂ€sst.“

Das Potenzial von Mohammeds Werk liege jedoch im Prozesshaften, teils WidersprĂŒchlichen seiner Darstellungsweise, „das dazu fĂŒhren könnte, diesen Texte aus seiner ideologischen Versteinerung herauszulösen und zu beleben – jenseits dogmatischer VerhĂ€rtung.“ Und in der Summe: „‘Heilige Texte‘ wieder als literarische Texte zu lesen wĂŒrde eine Befreiung von den Fesseln des Dogma darstellen. Welche Erweiterungsmöglichkeit, welche wahrhafte ‚Befreiungstheologie‘ erwĂŒchse aus diesem Geist.“ Literatur gegen Wahrheitsanmaßung und Seelenverknöcherung – ein kĂŒhnes und zugleich einleuchtendes Konzept: „Weder ‚Kulturen‘ noch Geschichten existieren als abgeschlossene EntitĂ€ten. In diesem Sinne könnte ‚Weltliteratur‘ den Umstand bezeichnen, dass es keinen allumfassenden und alleingĂŒltigen Deutungsanspruch fĂŒr Geschichten geben kann.“ Sind nicht tatsĂ€chlich die multiperspektivischen Geschichten immer die besten? Goethes ErzĂ€hlgedicht „Erlkönig“ etwa, das dem anmaßenden „Es ist wahr!“ ein wĂ€gendes „Ist es wahr?“ entgegensetzt.

Literatur ist welthaltig und wirkt zugleich mitgestaltend auf die Welt ein. Niemals aber reduziert Wertheimer Literatur auf eine Funktion Ă€hnlich dem holzschnittartig argumentierenden politischen Pamphlet. Immer hat die „Kunst“ ihr Eigenrecht und wirkt gerade darin befreiend, weil wahrnehmungsschulend und bewusstseinsweitend. Mit Tolstoi stellt der Autor in den Raum, „dass der Ă€sthetischen QualitĂ€t nichts abtrĂ€glicher ist als das Einsickern gesinnungs- und bekenntnishafter Momente.“ Tolstoi, der große Weltengestalter, der zugleich zum Weltverbessernd-Thesenhaften neigte und das Spannungsfeld zwischen Ästhetik und Engagement somit beispielhaft reprĂ€sentiert.

In seinem Aufsatz „Was ist Kunst?“ behauptete der russische Großschriftsteller – darin Wertheimer vorausgehend: „Die Kunst ist nicht, wie die Metaphysiker sagen, die Offenbarung irgendeiner geheimnisvollen Idee, der Schönheit Gottes; (
) vor allem aber ist sie kein Genuss, sondern ein fĂŒr das Leben und das Streben auf das Wohl des einzelnen Menschen und der Menschheit notwendiges Mittel der Einigung der Menschen, das sie in ein und denselben GefĂŒhlen vereinigt.“

 

Buchtipp:

JĂŒrgen Wertheimer: Weltsprache Literatur. Die Globalisierung der Wörter. Verlag Claudia Gehrke. 450 Seiten, € 19,90

 

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