Wir Verdränger

 In FEATURED, Umwelt/Natur

<strong>Beim Essen hört für die meisten Zeitgenossen die Moral auf.</strong> Was würden wir tun, um Menschenleben zu retten: Ein bisschen Geld bezahlen? Vermutlich. In die Fluten stürzen und einen Ertrinkenden rausholen? Vielleicht. Aber auf Fleisch verzichten? Für die meisten wäre bei einer solchen Zumutung das Ende des Edelmuts bereits erreicht. Auch weil sie den Zusammenhang gar nicht so klar sehen, wie er gesehen werden müsste. Der Konsum tierischer Lebensmittel trägt massiv zum Hunger in der Welt und zum katastrophalen Klimawandel bei – mehr vermutlich als Autofahren und Fliegen. Während es aber das Phänomen „Flugscham“ gibt, warten wir auf die „Fleischscham“ bis heute vergebens. Betrachten wir es aber konstruktiv: Wir alle können mit relativ einfachen Maßnahmen Leben retten – nicht nur die der Tiere, sondern im zweiten Schritt auch die von Menschen. V.C. Herz

Über Zivilcourage wird viel gesprochen. Auf Plakaten wird aktiv dazu aufgerufen. Wir werden aufgefordert, hinzusehen und zu helfen. In Diskussionen sind wir uns alle darüber einig: Wir würden sofort handeln, wenn jemand auf unsere Hilfe angewiesen wäre. Wir würden nicht wegschauen, wir würden eingreifen! Eingreifen, wenn Kinder geschlagen werden. Eingreifen, wenn Eltern ihre Kinder zuhause verhungern lassen. Eingreifen, wenn Frauen vergewaltigt werden. Eingreifen, wenn Rentner wahllos zu Tode geprügelt werden.

Denn wir sind Teil einer verantwortungsbewussten Gesellschaft. Die Würde des Menschen ist unantastbar. Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Das sind Grundpfeiler unserer Verfassung, und hinter diesen Werten stehen wir. Sie erfüllen uns mit Stolz.

Aber wie weit würden wir gehen, um für unsere Grundwerte und die Rechte Dritter einzustehen? Würden wir es riskieren, körperliche Verletzungen davon zu tragen oder gar unser Leben aufs Spiel setzen, nur um zu helfen? Das Mindeste wäre, Hilfe zu holen, wenn wir selbst nicht in der Lage sind zu helfen. Dasselbe würden wir auch von anderen erwarten, wenn wir auf Hilfe angewiesen wären.

Doch während wir uns in Deutschland Gedanken über Zivilcourage machen, tickt für andere die Uhr: Über eine Milliarde Menschen leiden weltweit an Hunger. Täglich sterben mindestens 25.000 Menschen an Unterernährung, davon sind mehr als 10.000 Kinder. Schätzungen gehen sogar von bis zu 40.000 verhungerten Kindern pro Tag aus. Jeden Tag. Auch jetzt, in diesem Moment! Jedes dieser Kinder hätte Hilfe benötigt, hat sie aber nicht erhalten. Und jedes Kind, das morgen verhungern könnte, braucht heute unsere Hilfe.

Zusätzlich bedroht die zunehmende Wasserknappheit immer mehr Menschen in ihrer Existenz. An den Folgen von verschmutztem Wasser sterben täglich mindestens weitere 5.000 Kinder. Weltweit haben etwa eine Milliarde Menschen keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser.

Auch die zunehmende Umweltverschmutzung sorgt für viele Probleme auf der Welt. Zeitgleich schreitet der Klimawandel mit großen Schritten voran, dieser wird die Situation der Unterernährung und des Wassermangels weiter verschärfen. Nicht bei uns in Deutschland natürlich, wir freuen uns schon auf die endlich wieder wärmeren Sommer. Aber gerade für die Menschen, die bereits heute hungern oder Durst leiden, wird die Klimaerwärmung alles nur noch verschlimmern.

Diese Menschen leiden und sterben tagtäglich, ohne auch nur einen kurzen Platz in unseren Nachrichten zu finden. Wir wissen alle, dass ständig Menschen verhungern. Warum sollte man deshalb jeden Tag dieselbe Nachricht im Fernsehen bringen? Und was können wir denn schon dafür? Es ist ja nicht unsere Schuld, dass wir zu viele Menschen sind auf diesem Planeten. Wir können doch nichts dafür, dass Menschen in klimatisch ungünstigen Gegenden leben. Und selbst wenn wir etwas dafür könnten – wir als Einzelne können es doch eh nicht ändern.

Wir können nicht unendlich viel Essen in die Krisengebiete transportieren. Woher sollten wir es denn nehmen, ohne dass es anderswo fehlt? Gewiss können wir einzelnen Menschen helfen, und das tun wir schließlich auch. Hilfswerke transportieren bereits Unmengen an Lebensmittel in die Krisenländer und retten viele Menschen vor dem Hungerstod. Viele von uns spenden regelmäßig, um diesen Menschen zu helfen. Denn viele von uns haben Mitgefühl. Und viele sind bereit, einen kleinen Teil ihres Reichtums abzugeben, um anderen Menschen das Leben zu retten. Denn das bedeutet es menschlich zu sein, es bedeutet, Mitgefühl zu empfinden. Im weltweiten Vergleich zählt schließlich selbst der deutsche Hartz-IV-Empfänger zu den Reichen.

Aber mit der Gesamtsituation auf der Erde sind wir hoffnungslos überfordert, wir haben nicht genügend Mittel, um allen zu helfen. Und es sind ja schließlich nicht nur die hungernden Kinder, es sind auch hungernde Erwachsene. Es sind kranke Menschen, die Medikamente benötigen. Es gibt auch in Deutschland Menschen, für die man spenden möchte – Obdachlose etwa. Was ist mit Spenden für karitative Zwecke, für die Krebshilfe, für an Diabetes Leidende? Auch in Deutschland sterben Menschen an Krankheiten. Krebs und Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind hier die mit Abstand häufigsten Todesursachen. Wem sollen wir nun am dringendsten helfen? Da wir nicht für jeden gleichermaßen da sein können, erfüllt uns ein Gefühl der Ohnmacht. Und oft hören wir ganz auf zu helfen, weil wir selbst nicht mehr einschätzen können, wo dies am dringendsten notwendig wäre. Und bei all dem Leid schleicht sich auch manchmal das Gefühl ein, es sei normal und gehöre irgendwie zum Leben dazu.

Wobei wir eines nicht vergessen dürfen: Was wir machen, ist ausschließlich die Bekämpfung von Symptomen. Es ist als würde unsere Badewanne überlaufen. Wir würden Eimer für Eimer das Wasser aus der Wanne holen, und dennoch würde sie weiter überlaufen. Das ist mit der Zeit ziemlich anstrengend, und irgendwann würde uns die Kraft ausgehen. So geht es uns auch bei unseren Hilfsbemühungen. Doch warum läuft sie eigentlich über? Und warum fragen wir uns gar nicht, warum sie dies tut? Vielleicht müssen wir ja nur den Wasserhahn zudrehen. Das wäre doch deutlich einfacher – und logischer!

Also stellt sich die Frage: Was ist denn die Ursache, die all diese schlimmen Symptome auslöst? Das Problem ist unser Konsum von Fleisch, Fisch, Milch und Eiern. Aber warum?

Mehr als 50% aller weltweit ausgestoßenen klimaschädlichen Gase stammen aus der „Nutztierhaltung“. Das heißt: Unsere Entscheidung, Fleisch zu konsumieren, trägt bedeutend mehr zum Klimawandel bei als die Frage, ob wir Auto fahren oder nicht. Oder ob wir in den Urlaub fliegen oder nicht. Der Fleischkonsum ist für mehr klimaschädliche Gase verantwortlich als sämtliche Autos, LKWs, Schiffe und Flugzeuge weltweit zusammen. Wir diskutieren darüber, ob wir aus Gründen des Klimaschutzes besser Hybridwagen fahren oder gleich die Bahn nutzen sollten. Wir besteuern Benzin mit horrenden Steuersätzen, um unser Klima zu schützen, subventionieren aber gleichzeitig mit Steuergeldern die Produktion von Nutztieren und verkaufen tierische Produkte mit reduziertem Mehrwertsteuersatz. Für den Emissionshandel werden die klimaschädlichen Gase aus der Viehwirtschaft gänzlich ignoriert. Mit Klimaschutz hat das zynische Geschäft mit Verschmutzungsrechten ohnehin nicht mehr viel zu tun – aber unseren Fleischkonsum zu hinterfragen kommt uns noch weniger in den Sinn. Der Konsum von tierischen Produkten trägt am meisten zur Klimaerwärmung und damit auch zu Wassermangel und Dürren bei. Somit ist er der Hauptfaktor für den Welthunger.

Zeitgleich verschwendet die Produktion von tierischen Lebensmitteln Unmengen an Ressourcen. Ein Mensch, der weder Fleisch noch Milchprodukte konsumiert, spart im Jahr 5 Millionen Liter Wasser gegenüber einem durchschnittlichen Fleischesser ein. Jedes Jahr! Gleichzeitig benötigt man für eine tierische Kalorie ein Vielfaches an pflanzlichen Kalorien (zwischen dem sieben- und dreißigfachen, je nach Tierart und verwendetem Futter!). Das bedeutet, dass man entweder einen Menschen mit tierischen Produkten oder bis zu dreißig Menschen mit pflanzlichen Produkten ernähren kann. Die an Tiere verfütterten Lebensmittel fehlen dann auf dem Weltmarkt. 80% der Länder, in denen Kinder verhungern, produzieren mehr Nahrungsmittel als sie selbst benötigen würden. Nur: Wir in den westlichen Industrienationen kaufen diese Lebensmittel auf, um damit unsere Nutztiere zu ernähren. Während eine Milliarde Menschen auf der Welt hungern, leisten wir uns den Luxus mehr als eine Milliarde Rinder zu füttern.

Gleichzeitig roden wir Regenwälder in Südamerika, um immer mehr und mehr Futtermittel anzubauen. Diese Pflanzen sind mittlerweile so stark genmanipuliert und gespritzt, dass sie für die Anwohner eine massive gesundheitliche Bedrohung darstellen. Und all die Tiere, die mit ihnen gefüttert werden, produzieren Unmengen an Ausscheidungen. Scheiße, im wahrsten Sinne des Wortes. Diese Exkremente verpesten unsere Umwelt. Schätzungsweise 30% des deutschen Grundwassers ist aufgrund der Umweltbelastung durch die Massentierhaltung nicht mehr genießbar.

Nahezu alle Ernährungs- und Gesundheitsstudien der letzten Jahrzehnte kommen zum selben Ergebnis: Der hohe Konsum von tierischen Produkten ist ungesund, fördert Krebs, Diabetes, Adipositas, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und viele weitere Krankheiten. Während wir also anderen Menschen und der Umwelt schaden, schaden wir auch noch uns selbst.

Und ganz am Rande sind da noch die Tiere: 750 Millionen von ihnen töten allein die Deutschen jedes Jahr – Fische nicht mit eingerechnet. 750.000.000 Tiere. Aber mit dem Töten allein ist es nicht getan: Wir verstümmeln die Tiere direkt nach ihrer Geburt, schwängern Kühe gegen ihren Willen und sperren all diese Lebewesen unter grausigsten Bedingungen ein. Viele Neugeborene werden direkt nach ihrer Geburt hingerichtet, weil sie dem falschen Geschlecht angehören oder wirtschaftlich nicht verwertbar sind. All das passiert hinter verschlossenen Türen, wir sollen und wollen das nicht sehen. Deshalb übernehmen wir diese Arbeiten auch nicht selbst, sondern lassen sie von Arbeitern aus dem Ausland zu Hungerlöhnen durchführen. Zusätzlich töten wir mehrere Milliarden Fische, indem wir sie qualvoll ersticken lassen. Wenn wir weiter fischen wie gehabt, wird es bereits 2050 keine Fische mehr in den Weltmeeren geben.

Dieses Verhalten ist weder erklärbar noch entschuldbar. Jedes Kind das heutzutage „verhungert“, ist in Wahrheit nicht verhungert; es wurde ermordet. Ermordet von einer Gesellschaft, die verlernt hat Zusammenhänge zu erfassen und Mitgefühl zu empfinden.

Die Lösung ist so einfach: Man müsste nur die Finger von tierischen Produkten lassen. Fleisch, Wurst, Milch, Sahne, Joghurt und Käse gibt es mittlerweile schließlich allesamt in veganen Varianten – ohne Umweltverschmutzung, ohne Klimaschäden, ohne Wasserverschwendung, ohne Lebensmittelvernichtung, ohne Tierqualen und ohne verhungerte Kinder. Es ist ganz einfach, der Geschmack der Produkte ohne tierische Bestandteile ist den „echten“ inzwischen täuschend ähnlich.
Solange wir uns all diese Fakten allerdings nicht eingestehen, bleibt nur die traurige Wahrheit dass wir die Mörder sind. Dass wir die Unmenschen sind, die Kinder verhungern lassen.

Und genau an diesem Punkt ist das Ende der Zivilcourage erreicht – Weil wir jetzt eigentlich mit dem Finger auf uns selbst zeigen müssten. Dazu müssten wir aber in der Lage sein Selbstkritik zu üben. Wir müssten eingestehen selbst Fehler begangen zu haben. Und wir müssten aufhören diese Fehler weiterhin zu begehen. Das ist das eigentlich Ungemütliche an der Sache.

Wer sich gegen Fleisch, Fisch, Milch und Eier ausspricht, hört auf, unsere Welt zu zerstören. Ein Veganer ist ein Mensch, der aufgrund seiner Entscheidungen damit aufhört, vorsätzlich Leid zu verursachen. Und der mit seinem Geld nicht dafür bezahlt, dass Anderen Leid zugefügt wird. Das ist das Mindeste, was jeder von uns leisten könnte, um das Elend auf der Welt zu minimieren und um hungernden und sterbenden Kindern zu helfen.

Wir müssen den hungernden Menschen kein Essen geben – wir müssen nur endlich aufhören, es ihnen wegzunehmen, um es in der Tierproduktion sinnlos zu vernichten. Das würde die Umwelt schonen, dem Klima helfen, Wasser und Lebensmittel sparen, Tieren und Menschen das Leben retten. Und ganz nebenbei unser eigenes Leben durch die gesund-heitlichen Vorteile verbessern.

Aber dafür müssten wir auch etwas tun: tagtäglich beim Essen eine ethisch vertretbare Entscheidung treffen. Und das ist nun wirklich genug der Zivilcourage. Denn beim Essen hört der Spaß bekanntlich auf!

Weitere Kurzgeschichten von V.C. Herz findet Ihr in seinen bisher drei Büchern. Ihr findet alle Angaben dazu (und weitere Leseproben) auf dieser Seite:

http://pflanzliche-kurzgeschichten.de/autor.php

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