Auf Seiten der Menschlichkeit: Marie Luise Kaschnitz

 In FEATURED, Holdger Platta, Poesie

Mag sein, dass Marie Luise Kaschnitz heute bereits ein wenig in Vergessenheit geraten ist. Zu Unrecht, wie ich finde. Sie gehörte einmal zu den ganz wichtigen AutorInnen in der Bundesrepublik, und am humanen Engagement ihrer Literatur bestand niemals ein Zweifel – wie auch an der literarischen Qualität niemals ein Zweifel bestand. Heute stelle ich diese wichtige Lyrikerin und Prosaschriftstellerin vor, die wirklich nicht vergessen werden sollte. Und ich stelle auch, anlässlich des heutigen Gedenkens an die verbrecherischen Atombombenabwürfe der USA über Japan ein Gedicht vor, das einschlägig schon im Titel angibt, worum es in dieser Lyrik geht: um Hiroshima! Holdger Platta

Zur Autorin Marie Luise Kaschnitz nur einige wenige Informationen vorweg. Sie lebte von 1901 (geboren in Karlsruhe) bis 1974 (gestorben in Rom) vorwiegend in der Bundesrepublik, unter anderem in Königsberg (Preußen), Marburg und Frankfurt am Main. Schon 1947 veröffentlichte sie erste Lyrik – im Gedichtband Totentanz und Gedichte zur Zeit, die ganz aus der Erfahrung des Zweiten Weltkrieges entstanden waren. 1955 bekam sie den Georg-Büchner-Preis, sie war als Gastdozentin für Poetik an der Frankfurter Universität tätig und wurde Mitglied des PEN-Zentrums, der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und der Bayerischen Akademie der Schönen Künste. Erstes großes Aufsehen erregte sie bereits 1951 mit ihrem Gedicht Hiroshima, das in der damaligen Zeitschrift Die Gegenwart erschien, eben jenes Gedicht, das ich im Folgenden vorstellen möchte. 1957 wurde es dann beim Düsseldorfer Claassen-Verlag nachabgedruckt in ihrem Lyrik-Band Neue Gedichte. Hier der Text im vollen Wortlaut:

 

Marie Luise Kaschnitz

Hiroshima

 

Der den Tod auf Hiroshima warf

Ging ins Kloster, läutet dort die Glocken.

Der den Tod auf Hiroshima warf

Sprang vom Stuhl in die Schlinge, erwürgte sich.

Der den Tod auf Hiroshima warf

Fiel in Wahnsinn, wehrt Gespenster ab

Hunderttausend, die ihn angehen nächtlich

Auferstandene aus Staub für ihn.

 

Nichts von alledem ist wahr.

Erst vor kurzem sah ich ihn

Im Garten seines Hauses vor der Stadt.

 

Die Hecken waren noch jung und die Rosenbüsche zierlich.

Das wächst nicht so schnell, daß sich einer verbergen könnte

Im Wald des Vergessens. Gut zu sehen war

Das nackte Vorstadthaus, die junge Frau

Die neben ihm stand im Blumenkleid

Das kleine Mädchen an ihrer Hand

Der Knabe der auf seinem Rücken saß

Und über seinem Kopf die Peitsche schwang.

Sehr gut erkennbar war er selbst

Vierbeinig auf dem Grasplatz, sein Gesicht

Verzerrt von Lachen, weil der Photograph

Hinter der Hecke stand, das Auge der Welt.

 

Wer sich fragt, worin die ganz besondere Kraft dieses Gedichtes besteht, der stößt unweigerlich auf die Tatsache, dass es Marie Luise Kaschnitz mit enormer Eindringlichkeit gelang, die entsetzenerregende Inhumanität des gewissenlosen Atombombenabwurfs auf Hiroshima nahezubringen. Nicht, indem sie die Wahrheit dieses furchtbaren Geschehens zu benennen versuchte – mit dementsprechendem Empörungsvokabular –, sondern indem sie diese Wahrheit wahrnehmbar und nacherlebbar machte für uns. Literatur sagt ihre Wahrheit, indem sie ihre Wahrheit erzählt. Dieser Satz, ursprünglich für Prosa zu Papier gebracht, gilt auch für Lyrik, gilt auch für ihr Gedicht. Und das große, eminent wichtige Hilfsmittel, das diese Autorin zu diesem Zweck einsetzt, ist der Kontrast desWahrnehmbaren, der vor unserem geistigen Auge aufscheint zwischen der ersten und der dritten Strophe dieses Gedichts.

Alles, was uns im ersten Teil dieser Lyrik mitgeteilt wird, entspricht Vermutungen, die seinerzeit umgingen in der Weltbevölkerung. Derartige Menschheitsverbrechen, so war die Annahme, hatten doch nicht folgenlos bleiben können für die Akteure, die unmittelbar dafür verantwortlich waren. Die humanen Annahmen gingen davon aus, dass ein Pilot, der über Hiroshima die erste in einem Krieg eingesetzte Atombombe abwarf, nicht ohne tiefe innere Einkehr dieses Verbrechen hätte überleben können, dass er womöglich sogar Selbstmord hätte begehen müssen nach diesem Massenmord oder dass er, zumindest dieses, aufs schwerste psychisch hätte erkranken müssen. Kloster, Suizid, Wahn – diesen Möglichkeiten (Wahrscheinlichkeiten?) als Folge der Tötung von über 80.000 Menschen (Zivilbevölkerung!) geht das Gedicht in seinem ersten Teil nach und beschwört diese Folgen, mit allen Sinnen wahrnehmbar, für uns. Im Indikativ, gleichsam als Tatsachenreport.

Und dann, als warnende Korrektur, der Zwischenruf in diesem Gedicht: „Nichts von alledem ist wahr“. Und dann folgt die ganz anders geartete Wirklichkeit, ebenso intensiv vor Augen geführt wie die vermeintlichen Katastrophen oder die vermeintliche Einkehr des Bomberpiloten in der ersten Strophe des Gedichts. Und was sehen wir da?

Fast, so möchte man sagen, eine heitere, eine vergnügte, eine völlig unbelastete Familienidylle. Ein Vater, der für seinen jungen Sohn das Reittier spielt, auf dem Rasen vor seinem Haus, ein Knabe, der auf dem Rücken spielerisch die Peitsche schwingt, eine junge Frau – ganz sicher Mutter des Kindes (sowie des Mädchens an ihrer Hand) und Ehefrau des Massenmörders von einst –, die „im Blumenkleid“ neben dem Verbrecher auf dem Rasen steht. Nach dem tödlichen Inferno von einst nunmehr ein Inferno moralischer Art: völlige Folgenlosigkeit im Innern des Massenmörders vom 6. August 1945. Wenn auch – Vorsicht! – das „verzerrte“ Lachen des Ex-Piloten vielleicht doch noch etwas anderes signalisiert. Bei aller Harmlosigkeit dieser Szene womöglich doch noch etwas anderes, das sich hinter dieser Vorstadt-Idylle verbirgt.

Darf ich an dieser Stelle eine Interpretation skizzieren, die ich nirgendwo sonst bisher gefunden habe, eine Deutung, die sich mir allerdings aufdrängt? – Um diese zu erläutern, aber ein paar Informationen vorweg:

Wir wissen, dass dieser Bomberpilot, der Colonel Paul W. Tibbets, seinem Flugzeug vor dem todbringenden Abflug einen Namen verpasst hatte: „Enola Gay“, den Namen seiner Mutter (das einzige, was Tibbets später Unmut und Kritik seiner Kollegen eingebracht hat!). Und wir wissen zum zweiten, dass man der tödlichen Bombe vor dem Abflug einen arg verniedlichenden Namen zu geben wagte: „Little Boy“. Mit einem Wort: in trauter Gemeinschaft von Vater, Mutter und Kind hob dieses Flugzeug von der Startbahn ab (Psychoanalytiker könnten sich einmal mit der ödipalen Charakteristik dieses inhuman-zynischen Benennungsvergnügens beschäftigen). Gleichsam einen kleinen Jungen, nicht eine verheerende Bombe, warf Pilot Tibbets dann über Hiroshima ab.

Die Perversion dieses Geschehens soll hier aber nicht Gegenstand meiner Spekulationen sein. Mich interessiert etwas anderes mehr. Es ist der Umstand, dass wir in dieser Vorstadt, auf dem Rasen vor dem Haus des Menschheitsverbrechers Tibbet genau dieser Personenkonstellation wiederbegegnen. Erneut sehen wir einen Vater, eine Mutter, einen Knaben vor uns – dieses Mal als Familienidylle inszeniert. Und doch mit Botschaften hinter dieser Botschaft versehen:

Der Knabe ist es nun, der die Peitsche schwingt (der Knabe, der in Hiroshima für Zehntausende von Menschen den Tod gebracht hat), der Vater ist es, der gleichsam zum Tier geworden ist und nicht mehr – im Spiegelbild dieses Spiels – noch als Mensch gesehen wird, und Mutter steht dabei – wie auf dem Flugzeug des Bomberpiloten der Name seiner Mutter gestanden hat, ohne selbst am Mordgeschehen beteiligt gewesen zu sein! Was bedeuten würde:

Dieses „Schlussbild“ im Gedicht der Marie Luise Kaschnitz visualisiert noch einmal – nur scheinbar in lauter Harmlosigkeit verwandelt –, was über Hiroshima geschah. Und wie damals, am 6. August 1945 über Hiroshima, ist auch dieses Mal alles wahrnehmbar für „das Auge der Welt“. Nichts ist vergangen, alles steht unter dem Wiederholungszwang, das weltgeschichtliche Großereignis über der japanischen Stadt kann auch hier wieder besichtigt werden: in irgendeiner US-amerikanischen Vorstadt. Was nur als kontrastierendes Spiel mit einem Kind erscheint, verweist zurück auf eines der größten Kriegsverbrechen der Menschheitsgeschichte. Heißt:

Hinter diesem scheinbar so einfachen, scheinbar so leicht verstehbaren Gedicht zu Hiroshima verbirgt sich eine Wahrheit und wird zugleich ans Licht gebracht, die zu dem Furchtbarsten gehört, das US-amerikanische Politik auf diesem Erdball jemals angerichtet hat.

Dieses Gedicht der Marie Luise Kaschnitz begehrt, im Namen der Menschlichkeit, mit allen Mitteln, die Lyrik zur Verfügung stehen, gegen das Vergessen dieses Menschheitsverbrechens auf. Diese Poesie ist, in der Tat, nicht einfach nur ein Gedicht. Dieses Gedicht ist, in der Tat, Widerstand!

 

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