Berufstätigkeit und Selbstverwirklichung

 In FEATURED, Politik, Wirtschaft

Zu einem – auch “linken” – Missverständnis. Ist es sinnvoll, den Menschen vor allem als “Arbeitswesen” zu definieren sich selbst verwirklichend im Austausch mit der Natur? Diese Deutung, die auch von Marxisten häufig ins Spiel gebracht wird, ist reichlich idealistisch. Dem steht die Tatsache gegenüber, dass es viel zu viele “Bullshit Jobs” gibt, Arbeiten, die getan werden müssen, bei denen die Ausführenden jedoch nur einen Bruchteil ihres “Wesens” zum Ausdruck bringen können. Selbst relativ kreative und differenzierte Jobs engen die menschliche Natur auf ein Bündel von Fähigkeiten und erwünschten Wesenszügen ein. Erst recht gilt das für sehr reduzierte Jobs, bei denen Menschen den ganzen Tag nur wenige Hand- und Denkbewegungen verrichten müssen. Wäre der Mensch allein durch Arbeit definiert, so würde dies Kinder, Arbeitslose, Renter eigentlich in einen außermenschlichen Bereich verweisen. Tatsächlich ist der Selbstverwirklichungsfaktor im Modus der Freiheit und Freizeit jedoch oft größer als in der Berufstätigkeit. Wenn viele, die mit dem Arbeiten aufhören, dennoch in ein “Loch” fallen, so liegt das vor allem darau, dass sie in den Jahren als Arbeitnehmer oft mental verstümmelt und auf das “Notwendige” reduziert wurden. Holdger Platta

Ich will es einmal drastisch formulieren: gibt es ein „Selbst“, das sich als Kassiererin „verwirklichen“ kann? Als Buchhalter? Als Sachbearbeiter für Beihilfefragen? Ich will auf Folgendes hinaus:

Selbst bei menschenwürdiger Entlohnung und bei menschenwürdigen Arbeitsbedingungen gibt es Tätigkeiten, die gesellschaftlich unvermeidbar ausgeübt werden müssen, die aber wenig bis gar nicht mit „Selbstverwirklichung“ in Kongruenz zu bringen sind (apropos: ein prima Kapitalismus wäre das, der ein solches Tätigkeiten-Tableau in seiner Arbeitswelt hingekriegt hätte!). Und dieser Mangel ist schlicht deshalb zu konstatieren, weil der Mensch mehr ist als das, was er von sich selber in seiner Berufstätigkeit realisieren kann. Anders gesagt: weil noch die meisten Beschäftigungsarten, die uns der weltweite Arbeitsmarkt anbietet, den Menschen in die Selbstverengung zwingen. Mal mit etwas kühner Assoziation formuliert: jenem „Zauber“, der Hermann Hesses Gedicht „Stufen“ zufolge noch „jedem Anfang“ innewohnt, diesem Anfangszauber bereitet noch fast in jedem Leben allerspätestens die Berufstätigkeit, zu der die Menschen genötigt sind, ein rasches und gründliches Ende. Wessen Arbeitsleben sähe schon so aus, dass es dem Menschen erlaubte, die Anfangsfülle seiner Wünsche und Interessen, seiner Fantasien und Fähigkeiten dort realisieren zu können? Gemessen an diesem Maßstab, ist noch fast jeder Lebensweg Verlustgeschichte.

Doch an dieser Stelle gleich auch ein Seitenhieb gegen bestimmte „Marxisten“:

Weil dem so ist, weil es nur eine begrenzte Anzahl von Tätigkeiten gibt, denen man ganze Selbstverwirklichungspotentialität zuschreiben kann, ist auch jedes Verständnis vom Menschen falsch, das den Menschen ausschließlich als Arbeitswesen definiert  – „im Stoffwechselprozess mit der Natur“, wie es bei Karl Marx leicht aufgedonnert heißt. Weder für den Müllwerker trifft dieses zu noch für die Sekretärin, weder für den Klempner noch die Wurstverkäuferin. Der Mensch ist primär oder gar ausschließlich kein Arbeitswesen (und ist dieses auch später nicht), sondern vor allem (mit bleibendem Charakter) ein Beziehungswesen. Und diese angeborene und niemals im Menschen ganz zu vernichtende Tatsache heißt: Selbstverwirklichung hat immer auch mit Beziehung zu anderen Menschen zu tun, nicht aber ausschließlich mit irgendeinem Verdauungsprozess, der sich etwa beim Bäume-Fällen oder Kohleabbau realisieren ließe (um mit diesem Begriff „Verdauungsprozess“ den sogenannten „Stoffwechselprozess“ von Marx zu paraphrasieren, eine Metaphorik, die mehr an Peristaltik denken läßt als an das Wesen oder Selbst eines Individuums.

Doch keine Mißverständnisse hier: ich wünsche noch jedem Mitbürger und jeder Mitbürgerin von ganzem Herzen eine gute Magen- und Darmarbeit, einen guten „Stoffwechselprozess“ mithin, und dieses nicht nur im eigenen Körperinnern, sondern auch untertage oder draußen im Wald!). Der Marxist Ernst Bloch, der sich auf die Anfänge und die Fülle des Menschen sehr gut verstand, auf deren „Noch-Nicht“ (= eine zentrale Deutungskategorie von ihm), hat das zu Beginn seines Buchs „Spuren“ so ausgedrückt: „Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Also werden wir erst.“ „Wir“, nicht „ich“! Der Mensch wird von Bloch bei seiner Selbstbefreiung und Selbstrealisierung als Mensch unter Menschen gesehen, als Mensch in Verbundenheit mit anderen Menschen. Als Beziehungswesen, um es nochmal in meiner Terminologie zu betonen. Und Bloch breitet, geradezu enzyklopädisch, in seinem Großwerk „Prinzip Hoffnung“ unendlich vieles an menschlichen Wünschen und Interessen, an Fantasien und Fähigkeiten aus, die ausschließlich mit Arbeit wenig oder gar nichts zu tun haben.

Doch ich will noch einen ganz anderen Blick auf diese Frage werfen, auf die Frage, ob „Mensch“ sich nur in „Arbeit“ verwirklichen könne. Mal unterstellt, dieses entspräche der Realität: stünden dann Kinder und Jugendliche (die noch nicht in den „Arbeitsprozeß eingetreten“ sind) deswegen prinzipiell und real erst vor den Toren der Selbstverwirklichung, und nichts in ihnen – wohlgemerkt: in Kindern und Jugendlichen –, nichts in ihren Selbstverwirklichungswünschen, drängte auf anderes hin als bloß aufs Arbeiten später? Da fallen mir, sorry, doch erst mal einige andere wichtige Dinge im Leben ein. Dieser merkwürdigen These zufolge – nur in der Arbeit komme der Mensch ganz zu sich selbst –  lebten Kinder und Jugendliche ergo so lange an sich selber vorbei, an ihrem „Selbst“ mithin, als sie noch nicht das große Vergnügen haben, an einem Fließband stehen zu dürfen oder sich in der glücklichen Situation wiederfinden zu können, als rechte Hand des Chefs demselben permanent nach dem Munde reden zu müssen. Und weiter:

Alle jene Menschen, die „verrentet“ werden, gehen diese dadurch schlagartig, von einem Tag auf den anderen, aller Selbstverwirklichungs-Chancen verlustig? Dass für manche Menschen dieser Verrentungstag durchaus so erlebt wird: wer wollte das bestreiten? Dass für viele Menschen die ewig lange Reihe der ewig langen Tage, Wochen, Monate und Jahre danach nur noch ein Dahin-Existieren auf das Ende hin ist: wer kennte solche todtraurigen Beispiele nicht? Aber: wird bei diesen „Diagnosen“ nicht oft übersehen, dass es keinesfalls der Mangel an Arbeit ist, der diesen Menschen ein derart leeres Altern beschert, sondern dass es gerade die Beschränktheit der Arbeit vorher war,  die bei diesen Menschen die innere Leere vorprogrammiert hat? – Deshalb nämlich, weil den meisten Menschen ihr „Selbst“ schon lange vorher ausgetrieben und abtrainiert worden ist,  gleichsam untergepflügt von ihrer jahrzehntelangen Berufstätigkeit zuvor, und zwar unabhängig davon, ob sie für diese Arbeit guten Lohn erhielten oder nicht, unabhängig davon auch, ob diese Arbeit unter schlechten Bedingungen abgeleistet werden musste oder nicht. Mit Selbstvereinseitigung, mit Selbstaufgabe, mit Selbstnichtrealisierung wurde oft sogar Bestbezahltsein oder Gutbezahltsein bezahlt, und deswegen geht es selbst manch begüterten Menschen nach ihrer Verrentung oft schlecht (was nicht heißen soll, daß es egal wäre, ob man als reicher Armer oder als armer Armer die letzten Jahre seiner irdischen Existenz verbringt, da sei nun wirklich Gott vor oder auch Karl Marx!).

Dass für nicht wenige Menschen am Tag der Verrentung der reale Abstieg ins Nichts beginnt, geht also darauf zurück, daß psychologisch dieser Abstieg ins Nichts  längst schon vorher vollzogen worden war. Diese Menschen waren sich bereits vorher abhanden gekommen – gerade aufgrund ihrer Berufstätigkeit! Was umgekehrt bedeutet:  für manche Menschen beginnt erst am Tag der Verrentung endlich ein Leben in Freiheit – potentiell jedenfalls (heißt: wenn noch Restbestände des eigentlichen, des eigenen Wesens erhalten geblieben sind und die materiellen Voraussetzungen, dessen Wünsche zu stillen), ein Leben in Freiheit, das ihnen vorher verwehrt war, eine Phase der Selbstbestimmung, von der sie zuvor nicht einmal mehr zu träumen wagten – eine Phase des wiedererwachenden und sich in der Selbstverwirklichung realisierenden Selbstbewusstseins.

Was ist eigentlich die „Wirklichkeit“, die man sich vorstellt, wenn man dieses Wort verwendet in dem Begriff „Selbstverwirklichung“ – und was ist dieses „Selbst“?

Ich mache es an dieser Stelle einmal kurz: dass wir als Kinder bereits geboren werden mit dem „Selbst“  eines Eisenbahnschaffners oder einer Kfz-Mechanikerin, einer Angestellten bei C&A oder eines Schuhmachermeisters (als Tendenz, später dann in der Gestalt innerer und äußerer Realität), solches uns  Menschen zu unterstellen, ist idiotisch, weil es uns Menschen zu Idioten macht, und es ist zynisch, weil es uns Menschen herunter definiert auf unsere bloße Wirtschaftsfunktion und reduziert auf eine Schrumpfvariante unserer selbst. Das hat mit Marxismus gar nichts zu tun, sondern eher mit einer linken Variante des vollkommenen Bescheuertseins. Oder: des Beschränktseins – ein Begriff, der vermutlich sogar noch besser zu unserem Thema hier passt, zum weltweiten Alltagsgeschehen der Menschenreduktion auf ein Fast-Nichts durch Berufstätigkeit! Und diese berufstätigen Menschen – ich verkenne es nicht – sind unter den Unglücklichen der Welt,  unter den Arbeitslosen und Hungernden auf unserem Erdball, noch die privilegierteren Menschen, sind noch die Menschen mit dem kleineren Unglück.

 

 

 

Kommentare
  • Freiherr
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    Es ist Skalverei und Entwürdigung und Verstümmelung und Verkümmerung u.u.u…

    für die überwiegende Mehrheit.

    Auch das war mir als Kind schon so deutlich klar und hatte mich davor gedrückt und verdrückt wie und wo es nur ging.

    Und ein Staat knöpft dir die Hälfte wieder ab und verschleudert es als ” Steuergelder “.

    Nein nein – lieber arm aber möglichst frei und unbeschädigt von dieser Sklavenhalterideologie.

    Es hätte einen Weg gegeben für eine erfüllende Tätigkeit mit Bezahlung, in Sport und Kunst immer einen Einser ohne besondere Anstrengung, aber der zu erfüllende Rest an Pflichtfächern hat mir das versaut, Fünfer und Sechser grod gnua !

     

     

     

     

     

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