Das Geld und die Seele des heutigen Menschen

 In FEATURED, Politik, Wirtschaft

Vereiste Seelenlandschaft (Märchen “Die Schneekönigin”)

Das oberste Ziel globaler Wirtschaft besteht leider nicht darin, Wohlstand und Glück für alle zu gewährleisten. Vielmehr fördert sie vor allem diejenigen, die am cleversten – und oft am rücksichtslosesten – die staatlichen Freiheiten für Profitstreben und Gewinn­maximierung nutzen. Kein Wunder, dass unsere Gesellschaft größtenteils aus verunsicherten Einzelkämpfern besteht, die eine Gletscherland­schaft eingefrorener Gefühle mit sich herumtragen und den Kontakt zu Freude, Geborgen­heit und Mitgefühl verloren haben. (Götz Eisenberg)

Das oberste Ziel globaler Wirtschaft besteht leider nicht darin, Wohlstand und Glück für alle zu gewährleisten. Vielmehr fördert sie vor allem diejenigen, die am cleversten – und oft am rücksichtslosesten – die staatlichen Freiheiten für Profitstreben und Gewinn­maximierung nutzen. Kein Wunder, dass unsere Gesellschaft größtenteils aus verunsicherten Einzelkämpfern besteht, die eine Gletscherland­schaft eingefrorener Gefühle mit sich herumtragen und den Kontakt zu Freude, Geborgen­heit und Mitgefühl verloren haben.

Unter vorkapitalistischen Zuständen bil­deten Lebens­zu­sammenhang und Pro­duktion eine Einheit. Werk­statt, Hof, landwirtschaftlicher Jahreszyklus sowie der Personenkreis der Großfamilie, zu der Verwandtschaft und Gesinde gehörten, stellten einen integrierten Zu­sammenhang dar. Libidinöse Beziehungen und Ar­beits­beziehungen waren wie zu einem Zopf verflochten. Solange man überwiegend für den eigenen Bedarf produzierte und Gebrauchswerte herstellte, herrschte ein aufgabenbezogener Arbeitsrhythmus und eine entsprechende zyklische Zeitstruktur.

Kontakt- und Geselligkeitsbedürfnisse, Kranken- und Altenpflege, Erziehung der Kinder mischten sich in die Ar­beitsvollzüge ein und unterbrachen sie, der Arbeits­tag verkürzte oder verlängerte sich je nach zu erledigender Aufgabe und Jahreszeit. Zahllose Feste und Fei­­ertage lockerten das Arbeitsjahr auf und sorgten für periodische Enthemmungen und Entregelungen der Sinne. Es herrschte ein Wechsel von höchster Arbeits­intensität und Müßiggang. Ein und derselbe Mensch ging im Laufe eines Tages ganz verschiedenen Tätig­keiten nach, die er insgesamt trotz aller punktueller Müh­sal und Plage nicht als »Arbeit« empfand. Es war einfach seine Lebensweise.

Das bäuerliche Leben hatte trotz aller materiellen Ar­mut, Not und Abhängigkeit von weltlichen und kirchlichen Herren seine eigenen Werte und seine Wür­de. Trotzdem lebten die Menschen natürlich nicht in einem goldenen Zeitalter, sondern, wie der italienische Filmemacher und Schriftsteller Pasolini schrieb, in einem »bitteren Zeitalter des Brotes«. Doch solange die menschlichen Tätigkeiten noch nicht der ökonomischen Rationalität und ihrem rechnerischen Kalkül un­terlagen, waren sie noch keine »Arbeit«, sondern fielen mit Zeit, Bewegung und Rhythmus des Lebens selbst zusammen. Es herrschte das, was der englische His­to­riker Edward P. Thompson als »moralische Ökonomie« bezeichnet hat.

Diese kannte die Kategorie des »Genug« und besaß präzise Vorstellungen davon, was ein gerechter und an­gemessener Preis für lebenswichtige Dinge war. Mehr zu produzieren, als man zur Befriedigung der eigenen Bedürfnisse benötigte, erschien sinnlos und galt darüber hinaus als unmoralisch.

Unsere Ängste haben oft und nicht ohne Grün­de mit den sozialen Bedin­gun­gen zu tun, in denen das Schicksal uns zu leben zwingt. Mit Geld eben. Die Geldgesellschaft ist, un­ausweichlich, eine Terror­gesellschaft. Die einen üben den Terror aus, zu ihrem Gewinn, die andern erleiden ihn.
URS WIDMER

Etablierung des Kapitalismus: ein weltgeschichtlicher Dressurakt. Die Produk­tion und der gelegentliche Tausch waren eingebunden in tradierte Formen von Sittlichkeit und religiös ge­präg­ten Vorstellungen vom richtigen Leben. Unter solchen Bedingungen hätten sich eine kapitalistische Ge­sellschaft und das, was man betriebswirtschaftliche Rationalität oder ökonomische Vernunft nennt, nicht entfalten können. Oder mit den Worten von Michel Foucault: »Denn das Leben und die Zeit des Menschen sind nicht von Natur aus Arbeit, sie sind Lust, Un­stetigkeit, Fest, Ruhe, Bedürfnisse, Zufälle, Begierden, Gewalttätigkeiten, Räubereien etc. Und diese ganze explosive, augenblickhafte und diskontinuierliche Ener­­­gie muss das Kapital in kontinuierliche und fortlaufend auf dem Markt angebotene Arbeitskraft transformieren.« Diesen Vorgang kann man als weltgeschichtlichen Dressurakt betrachten, der dann vollendet ist, wenn die Peitsche des Aufsehers nicht mehr nötig ist und die Menschen ihr kapitalverwertendes Unglück als eigene Erfüllung erleben.

Der »soziale Urknall« (Klaus Dörner) der industriellen Revolution hat um das Jahr 1800 herum die Einheit der agrarischen und handwerklichen Hausgemein­schaft auseinandergesprengt. »Sozialer Urknall« ist natürlich eine Metapher, die die explosive Kraft des Vorgangs zum Ausdruck bringen soll. In Wirklichkeit war die industrielle Revolution ein Prozess, der sich über Jahr­zehnte hinzog und bis heute nicht zum Abschluss ge­kommen ist. Die Einheit der Hauswirtschaft wurde im Wesentlichen in drei Teile zerrissen: das Wirtschafts- und Produktionssystem, das Sozialsystem und die Kleinfamilie. Diese Explosion und die von ihr ausgelösten, bis in die Gegenwart spürbaren Nachbeben nennen wir Moderne. Sie löste die Ökonomie aus den Zusammenhängen, in die sie zuvor eingebettet war, heraus. Die Fabrik- oder Manufaktur-Arbeit war eine von allen Beimischungen befreite, reine Arbeitszeit und wurde in der Folgezeit in Kombination mit der Maschinerie zur Quelle einer stetig wachsenden Pro­duk­tivität.

Diesen Vorgang hat der englische Soziologe Anthony Giddens als disembedding, Entbettung, bezeichnet, der ungarisch-österreichische Historiker Karl Polanyi sprach von einer herausgelösten Ökonomie. Erst als aus den Zusammenhängen des Lebens »herausgelöste« konnte sich die Ökonomie von den ihr auferlegten Begren­zungen befreien und zu einer anonyme Märkte beliefernden Warenproduktion werden, deren Ziel nicht län­ger die Bedürfnisbefriedigung ist, sondern die Ver­mehrung des zum Kapital mutierten Geldes.

Geld: vom Tauschmittel zur Ware. Soweit es zuvor Warenproduktion gab, blieb das Geld auf die Rolle eines Mediums beschränkt: Es stand in der Mitte zwischen zwei qualitativ verschiedenen Waren als bloßes Tauschmittel: W – G – W.

Die moderne Ökonomie dagegen basiert auf der Ver­wandlung des Geldes aus einem Medium in einen Selbst­zweck. Das Verhältnis von Ware und Geld hat sich verkehrt. Die Ware steht in der Mitte zwischen zwei Geldbeträgen. Diese Operation macht natürlich nur Sinn, wenn am Ende eine größere Summe Geld als am Anfang steht: G – W – G+.

Es wird im­mer dringlicher, den intellektuellen Mut aufzubringen, uns eine Welt jenseits von Ware und Geld vorstellen zu können und uns praktisch für ihre Verwirklichung einzusetzen.
GÖTZ EISENBERG

Das Geld als flüchtige Erscheinungsform des Wertes hat sich in Kapital verwandelt, das sich selbst vermehrt. Zweck der Produktion ist die Anhäufung von Gewinn in Form des Geldes. Erst durch diese neue ökonomische Logik konnte eine Marktwirtschaft entstehen, in der am Profit orientierte Unternehmen miteinander konkurrieren und alle Menschen davon abhängig werden, dass sie Geld verdienen. Das Geld verselbständigt sich zum Selbstzweck und Fetisch der Moderne. Der Druck der Konkurrenz sorgt dafür, dass jedes einzelne Unternehmen gezwungen ist, bei allen Entscheidungen der Rationalität des Geldes zu gehorchen. Das nennt man Marktwirtschaft. Deren Grund­regel bekam der junge Walter Kempowski von seinem Vater in folgender Kurzfassung vermittelt: »Angebot und Nachfrage regele die Wirtschaft, der Schwache werde zerquetscht. Klare Sache und damit hopp!«

Der sinnliche Inhalt der Produktion wird einer abstrakten, rein quantitativen ökonomischen Rechnung un­ter­worfen. »Das Geld«, heißt es beim 2012 gestorbenen Publizisten Robert Kurz, »arbeitet wie ein gesellschaftlicher Roboter, der nicht zwischen giftig und ungiftig, schön und hässlich, moralisch und amoralisch unterscheiden kann.« Marktwirtschaft macht hässlich, die Schönheit der Welt schwindet. Rund 200 Jahre Kapi­talismus haben ausgereicht, den Planeten in eine einzige stinkende Müllkippe zu verwandeln und sturmreif zu schießen. Das nennt Kurz den »Todestrieb des Ka­pitals«.

Massenarbeitslosigkeit als Begleiterscheinung. Nun haben wir nicht seit 200 Jahren »den Kapitalismus« als fertig entwickeltes gesellschaftliches System, sondern die Durchsetzungs­geschichte dieser Produktionsweise, die erst heute zum totalen Weltverhältnis geworden ist. Das Kapital, zu­nächst nur ein Segment der Gesellschaft, fraß sich von Produktionszweig zu Produktionszweig voran.

Im Zuge der dritten, auf der Mikroelektronik basierenden industriellen Revolution erreicht die Steigerung der Produktivität durch das Zugleich von Automa­tisierung, Rationalisierung und Globalisierung eine neue Qualität: Es wird mehr Arbeitskraft überflüssig gemacht, als durch die Erweiterung der Märkte reabsorbiert werden kann. Die Massenarbeitslosigkeit wird zum strukturellen Weltzustand, und die Arbeitslosen sind keine Reservearmee der Arbeit mehr, sondern ein nicht mehr integrierbares Abfallprodukt der in die Ab­straktion geschossenen Verwertung des Wertes.

Der Realkapitalismus ist inzwischen zu einem An­häng­sel der von der Finanzindustrie aufgeblasenen Spekulationsblasen geworden. Die Vermehrung des Gel­des hat sich von der lebendigen Arbeit weitgehend emanzipiert und funktioniert, ohne den Umweg über die Produktion von realen Gegenständen oder Dienst­leis­tungen zu gehen. Das Geld selbst wird zur einzigen Ware, die die Finanzindustrie mittels immer waghalsigerer und immer weniger beherrschbarer Operati­o­nen auf dem Finanzmarkt erzeugt.

Rund zweihundert Jahre, nachdem sich die Produktion aus vorbürgerlichen Lebenszusammenhängen herausgelöst und als abstrakte, kapitalverwertende Arbeit verselbständigt hat, durchdringt die Logik des entbetteten Geldes alle Lebensbereiche, und es kommt zu einer pervertierten Wiedervereinigung von Arbeit und Leben. Das vom »sozialen Urknall« zerrissene und frag­­mentierte Leben wird wieder ein Ganzes, aber eben ein vollständig kapitalistisch integriertes und von den Im­perativen des entfesselten Geldes beherrschtes.

Die Logik von Ware und Geld triumphiert in allen Be­reichen, dringt in alle Poren der Gesellschaft bis in die alltägliche Lebensführung und intimen Binnenwelten der Menschen vor. Diese sind und begreifen sich als lebende Waren, Geldsubjekte. Sie sprechen von sich selbst und ihrer Lebensführung in ökonomischen Ter­mini und streben nach ihrer permanenten warenförmigen Selbstoptimierung. Das Gesicht ist zum Logo ihrer persönlichen Marke geworden, das in den sogenannten sozialen Netzwerken zu Werbezwecken ausgestellt wird.

Vielleicht ist die Trivialisie­rung des Lebens die stärkste antimystische Kraft unter uns. Manche sind geradezu behext von dem Zwang, alles trivialisieren zu müssen. Was ein angeblich richtiges Denken, Zen­sur, Geschichtsverfälschung und Unterdrückung in den früheren Ländern des Ost­blocks leisten sollten, das wird in unserem System durch eine uns sanft um­spülende Trivialisierung erreicht, du kannst alles denken, fühlen, erfahren und mitzuteilen versuchen: Sobald es ans Licht tritt, wird es entwichtigt, sinnlos gemacht und abgetan, weil es sich in bezug auf die bei uns herrschende Währung nicht konvertieren lässt. »Es bringt nichts« – diese Redewendung drückt den Zustand von Herrschaft sehr genau aus; es lässt sich nicht verwerten, es ist ohne Entgelt.
DOROTHEE SÖLLE

Hauptsache Spaß. Die neueste Sumpfblüte der Waren- und Geldgesellschaft: Partnersuche per App. Markt­führer bei diesen Dating-Apps ist Tinder. Anfang 2015 nutzten allein in Deutschland zwei Millionen Men­­schen diese App. Das Programm kann kostenlos heruntergeladen werden, die Anmeldung funktioniert nur mit einem Facebook-Profil. Aus diesem zieht sich Tin­­der die Daten: fünf Profilbilder, Freundesliste, Ge­fällt-mir-Angaben, Alter, Geschlecht. Via GPS sucht das Programm nach passenden Kandidaten in der Um­ge­bung. So simpel das System, so simpel die Spielre­geln. Nach links wischen heißt: »Nein danke, verschwinde, weg mit dir ins digitale Nirwana.« Nach rechts wischen bedeutet: »Ja, kann was werden, ab in den Waren­korb.« Das Praktische daran: Ist man nicht erwünscht, gibt es auch keine Benachrichtigung. Wenn sich zwei Nutzer aber gegenseitig nach rechts wischen, ergibt das ein sogenanntes Match – und nur dann kann man miteinander chatten. Diese Form der Bezie­hungs­an­bah­nung schafft die Furcht vor Zurückwei­sung ab, sagt der Tinder-Erfinder Sean Rad. Dating-Apps bieten eine Art von Versicherung gegen Ableh­nung.

Bei Amazon einkaufen, bei Tinder einen Partner su­chen. So läuft das heute. Warum sollte eine Gesell­schaft, die alles und jedes in eine Ware verwandelt, vor der Intimsphäre halt machen? Die Mentalität des Tausches und der Austauschbarkeit findet die ihr ge­mäße Technik.

Eine Gesellschaft, deren einzige Imperative die der Bereicherung, des Konsumierens und Spaßhabens sind, darf sich nicht wundern, wenn die Waren- und Geld­subjekte moralisch verwildern und die Rücksichtslo­sigkeit grassiert. Einer vollständig durchkapitalisierten und ökonomisierten Welt wohnt eine Tendenz zu Bar­barei und Gewalt inne. Moral wird zu einer Katego­-rie des individuellen Nutzens oder einer bloßen Ge­schmacks­frage. Im Zuge der kapitalistischen Vergesell­schaftung frisst sich der »Kältestrom« (Ernst Bloch), der aus der Grundschicht der bürgerlichen Gesellschaft – letztlich der Tauschabstraktion – entspringt, durch alle Schichten des Gesellschaftsbaus hindurch, zehrt sozial-moralische Traditionsbestände auf und dringt schließlich bis ins Innere der Menschen vor, das er in eine Gletscherlandschaft eingefrorener Gefühle und psychischer Prozesse verwandelt.

Die sich universalisierende »bürgerliche Kälte« (Ador­no) schafft das Mitleid ab, das über weite Strecken der Moderne das Prinzip der Individuation mit der Fähig­keit verschränkte, sich in andere und deren Leiden einfühlen zu können, und so dem »Krieg aller gegen alle« gewisse Grenzen setzte. Der von der Wirtschaft propagierte »flexible Mensch« soll alle Hemmungen ablegen, damit er zu allem fähig werde. So ist es denn auch. Unter unseren Augen entsteht ein durch und durch kapitalistischer Menschentyp, der all jene Eigen­schaften einbüßt, die wir bisher für die eigentlich mensch­lichen gehalten haben.

Es ginge auch anders. Statt dass eine zur Ver­nunft gekommene Menschheit die gigantischen materiellen und intellektuellen Kräfte, die sich im Schoße der kapitalistischen Produktionsweise entwickelt ha­ben, zur Einrichtung einer freien Gesellschaft einsetzt, wird sie mehr und mehr zum Anhängsel einer losgelassenen Ökonomie. Längst könnte sich die Gesell­schaft aufgrund der gestiegenen Produktivität von ihren ökonomischen Zwängen befreien; längst müssten Geist und Körper keine bloßen Werkzeuge im Dienst unlustvoller Verrichtungen mehr sein; längst müsste auf dem Leben nicht mehr die Strafe achtstündiger täglicher Arbeit oder aufgezwungener Nicht­arbeit stehen.

Wir benötigen dringend eine Ökonomie, die nicht länger nach Geldkategorien und den Äquivalenzkriterien des Warentauschs verfährt, sondern ihre Praxis an na­turalen Größen, sinnlichen Bedürfnis- und ökologischen Verträglichkeitskriterien ausrichtet. Es wird im­mer dringlicher, den intellektuellen Mut aufzubringen, uns eine Welt jenseits von Ware und Geld vorstellen zu können und uns praktisch für ihre Ver­wirklichung einzusetzen.

Dieser Artikel erschien zuerst in “Sein” (www.sein.de) und im “Brennstoff” (www.brennstoff.com)

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