Der Geldverteiler vom Mirabellplatz
Es gibt die „Tafeln“, die Lebensmittel verteilen und es gibt Container, in denen Kleider gesammelt werden. Ein ähnliches System für Geld gab es bisher nicht. Entweder Passanten werfen Bettlern direkt etwas in ihre Schale – oder Spenden erfolgen anonym über Bankkonten. Ein Salzburger stellte auf einem belebten Platz einen Geldcontainer auf. Wer was übrige hat, kann spenden. Das Geld das hereinkommt, wird dann an Not leidenden verteilt. Eine Idee mit Zukunft? Oder doch nur ein Tropfen auf den heißen Stein, der nichts an den Fehlern unseres Systems ändert? Stefan Selke hat dem Feldversuch sogar ein ganzes Buch gewidmet. (Christine Wicht)
Es gibt sie durchaus, die tatkräftigen Menschen mit verblüffend genialen und einfachen Ideen den Armen zu helfen, die diese Idee dann auch realisieren um sie einfach einmal auszuprobieren und sich nicht gleich von mutlosen Bedenkenträgern abschrecken lassen. Unter dem Namen „FairShar€“versucht der Laientheologe und ehemalige Mönch, Max Luger, der steigenden Armut etwas entgegensetzen und seine persönliche, soziale Utopie des Geldverteilens in die Praxis umzusetzen.
Als Luger mit 61 Jahren in Rente geht, möchte er etwas revolutionäres beginnen und kommt auf die Idee mit dem Geldcontainer, in welchem diejenigen mit mehr Geld haben, etwas Geld abgeben können, damit es direkt an Menschen in Not verteilt werden kann. Für Realisierung dieser Vision stellte ihm die Stadt Salzburg kostenlos ein Grundstück für seinen Container, in exponierter Lage, auf einer kleinen Grüninsel am Rande des Mirabellplatzes, zur Verfügung. Luger fand Sponsoren für Container und Nebenkosten, schließlich soll jeder Cent, der eingenommen wird, direkt und ohne Abzüge, an Bedürftige verteilt und nicht für Projektkosten verwendet werden.
Stefan Selke, Soziologieprofessor an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Furtwangen, im Schwerpunktbereich „Gesellschaft, Nachhaltigkeit und Gesundheit”, ist bereits für sein Buch „Schamland“ tief in die Armutsökonomie in Deutschland eingetaucht. Dem Stil der narrativen Soziologie folgend, setzte er sich nun intensiv mit der Utopie des Geldverteilens auseinander. Dafür begleitete er zeitweise das Projekt vor Ort und fasste seine Erfahrungen in einem Buch mit dem Titel „Der Geldverteiler vom Mirabellplatz – Eine soziale Utopie“ zusammen.
Die Menschen, die in den Container kommen, erzählen ihre Geschichte. Für Selke sind diese Geschichten die Summe unserer Identitäten. Erzählerische Wahrheit bezeichnet er als Wechselkurs dieser Transaktion. Während des Schreibens koppelte Selke seine analytische Sichtweise von der Lust zum Narrativen ab. Entstanden ist ein informatives Buch, das dem Leser einen Blick in die Parallelgesellschaft armer Menschen, mit ihren Nöten, gibt. Er wollte so anschaulich wie möglich von einem Ort der Wärme inmitten einer kalten Welt berichten. Vielleicht, fragt sich der Autor, spüren wir irgendwann die einmal die diffuse Form der Beteiligung an den großen Fragen dieser Welt. Vielleicht sehen wir auch, dass unsere Handlungen Ursachen haben und mit dem Leben anderer zusammenhängen, auch wenn wir diese Menschen nicht persönlich kennen und dass andere leiden, weil es uns gut geht.
Touristen bleiben vor dem Container stehen und können den Sinn und Zweck nicht einordnen, halten ihn für eine Verteilungsstelle von Lebensmitteln, weil er beschriftet ist mit einer Hand die ein Stück Brot reicht und einer Hand, die es nimmt. Der Schriftzug von „FairShar€“ prangt an der Seite, womit eine Form des Umverteilens von denen, die haben, zu denen, die brauchen, gemeint ist. Luger wollte bewusst den Container in die Mitte der Stadt rücken, um die Passanten zu sensibilisieren, dass auch in einer reichen Stadt wie Salzburg, arme Menschen leben. Er versteht sich als Irritationsagent, der den Finger in die Wunde legt, denn Salzburg mag eine reiche, satte Stadt sein, doch das soziale Klima ist eher abweisend und kühl. Salzburg ist auch eine Stadt der hohen Mieten, arm in Salzburg zu sein, heißt demzufolge auch, die Miete nicht mehr oder nicht mehr rechtzeitig zahlen zu können oder im Winter nicht mehr angemessen heizen zu können. Armut heißt auch keine Einladungen mehr annehmen zu können oder Freunde einzuladen, Armut heißt auch ausgeschlossen sein.
Manche Passanten zweifeln, dass ein solches Projekt in Salzburg überhaupt notwendig ist, da die Stadt prunkvoll, gesättigt und saturiert wirkt. Jeder sieht die Stadt eben aus seinem Blickwinkel, wer Geld hat, braucht sich um Rechnungen keine Sorgen machen. Einige Touristen findet es unangenehm angebettelt zu werden, weil sie in Urlaub ist und sich entspannen und nicht mit Elend in Kontakt kommen wollen. Wenngleich heute Armut nicht immer an der Kleidung erkennbar ist, so ist sie dennoch präsent und es scheint manche Bürger zu stören, dass Arme nicht mehr in Lumpen rumlaufen.
Das Klischeebild der Armen ist auch heute noch fest verbunden mit schmutziger, verlumpter Kleidung und ungepflegtem Aussehen. Doch wir leben nicht mehr im Mittelalter mit Armen- und Siechenhäusern und Bettlern vor den Stadttoren. Um Grundbedürfnisse, aber eben nur solche, kümmert sich der Staat. Luger sitzt an vier Tagen in der Woche im Container. Er möchte das Unsichtbare sichtbar machen, denn das einzige, was sichtbar ist, sind die vielen, gutgepflegten Vorurteile armen Menschen gegenüber, dass arme Menschen nicht mit Geld umgehen können, dass sie Sozialschmarotzer sind, die nicht arbeiten wollen, dass ihnen eine Schuld an der eigenen Lebenssituation unterstellt wird und dass die Gesellschaft nur ungern daran denkt, dass uns selbst Krankheit, Krisen und Katastrophen treffen könnten.
Luger macht die Erfahrung, dass die größte Armut unserer Zeit die Beziehungsarmut ist und die Bildungsarmut, da Jugendliche häufig die Schule abbrechen. Viele, die in seinen Container kommen, befinden sich einem Kreislauf an dessen Ende menschliche Tragödien stehen. Armut hat viele Gesichter. Für manche ist er ein moderner Robin Hood. Luger selbst sieht sich eher als Bergführer, der über den Berg helfen will.
Selke zitiert Ernst Bloch, der in seinem Buch „Das Prinzip Hoffnung“ schreibt: „Wenigstens hat der Arme den Vorteil, schmutzig auszusehen. Er bietet keinen schönen Anblick, er wirkt vorwurfsvoll, auch wenn er schweigt. Der Arme darf ans Herz, doch freilich nicht an den Beutel greifen; Letzteres tut der Herr, um das Elend, von dem er lebt, zu mildern.“ Das Problem liegt darin, dass die staatliche Zuwendung kein Leben in Würde sichert und oftmals die Kosten nicht deckt.
Da wird schon ein Schulanfang zum Desaster. Eine Mutter kam in den Container, um Geld für den Schulanfang zu bekommen, weil das Geld, das sie von der Stadt bekommen hat, schon für Turnschuhe und Turnkleidung aufgebraucht war. Eine alleinerziehende Mutter weiß nicht wie sie ihre Lebenshaltungskosten bestreiten soll, ihr Sohn bekommt für‘s Ministrieren 6 Euro pro Woche, davon füllt sie den Kühlschrank, wenn es eng wird. Max Luger weiß, dass Menschen, die ein Mindesteinkommen haben, irgendwann den Strom nicht mehr zahlen können und delogiert (geräumt) werden. Wer in diesen Kreislauf gerät, kommt meist nicht mehr heraus. Jeder, der in den Container kommt, hat seine eigene Geschichte.
Während seiner Zeit als Pastoralassistent wurde Luger bei Hausbesuchen in seiner Salzburger Gemeinde mit Armut, Not und Schicksalen konfrontiert und wünschte sich, dass die Spenden, welche die Pfarrei einnimmt, gerecht verteilt werden. Es ärgert ihn, dass die Kirche zwar viele Worte macht, aber wenig davon in die Tat umsetzt. In der Praxis stand kaum etwas brauchbares (S. 72). Luger wollte bewusst weg von der Kirche, die eine Hemmschwelle und zudem nicht gerade für ihre Großzügigkeit gegenüber Bedürftigen bekannt ist. Der Container soll Menschen in Not einen niederschwelligen Zugang ermöglichen. Doch seit der Container in Salzburg bekannt ist, schicken Kirche und Caritas Bedürftige zu ihm. Ein Pfarrer schenkt einer Frau, die ihn um Hilfe bittet, zwei Bananen und schickt sie weg. Ein Mitarbeiter der Caritas kommt in den Container und fragt ob sie Leute zu ihm schicken können, Luger verneint, da sein Budget nicht ausreicht. Für Luger ist beides ein Armutszeugnis.
Luger legt eine Spenderliste und für jeden Bittsteller ein Stammdatenblatt an. Er erstellt eine Liste der eingegangenen Spenden, die auf der Website zum Projekt einsehbar ist. Somit können Spendeneingänge und Ausgaben zurückverfolgt werden. Er legt Wert darauf, dass dies keine Almosen sind, sondern eine Zuwendung, die zu einer Entlastung in der Not führen soll. Optimal wäre, wenn die Zuwendung von der Soforthilfe zur Selbsthilfe führen würde. Das gelingt Luger auch manchmal, doch meist kommen die Hilfesuchenden wieder in den Container. Manche kommen aber auch, weil sie einsam sind und nur ein wenig reden wollen. Zwar gehen hier und da höhere Spenden ein, doch dann folgt auch wieder eine längere Durststrecke.
Leider muss Luger Hilfesuchende auch wegschicken, manchmal gibt er Geld aus seiner eigenen Tasche. Er muss Prioritäten setzen, weil im Container weniger Geld abgegeben als gebraucht wird und teilt die hilfesuchenden Menschen, die in den Container kommen in 7 Kategorien auf: Menschen, die Unfälle hatten, schwer erkrankt sind und hohe Medikamentenkosten haben, Alleinerziehende, Zerbrochene Familien, Personen mit hohen Mietkosten, Menschen mit psychischen Erkrankungen, Vagabundierende und Haftentlassene, die in der Regel keine Hilfe bekommen und Vereinsamte Menschen, die kein Geld sondern reden wollen. Sein Sortiersystem ist keine Musterlösung, sondern ein Versuch, mit dem Grundproblem der Knappheit umzugehen (S. 94). Es gibt Zeiten, in welchen er an seiner Utopie zweifelt und es ist schwer zu verstehen, warum so wenig Menschen abgeben, obwohl es ihnen gut geht. Er bekommt eine Auszeichnung von der Stadt Salzburg, dotiert mit einer Statue, aber kein Geld. An manchen Tagen fragt er sich ob er die Arbeit im Container einstellen soll.
Stefan Selke nimmt im Epilog Stellung zum Projekt „FairShar€“ und setzt sich mit der Frage auseinander ob es denkbar wäre, einen Geldverteilungscontainer an anderen Orten aufzustellen und ob die Idee von Max Luger reproduzierbar wäre. Selke hält nichts davon „FairShar€“ zu multiplizieren, da er befürchtet, dass sich diese Utopie dahin entwickeln würde wie die Einrichtung der Tafeln und Wohlfahrtsorganisationen und staatliche Einrichtungen Bedürftige nur mehr zum Container schicken würden. Es würde sich nichts an den Ursachen der Armut ändern und damit sichern sie sich ihre Existenz, sie wollen gebraucht werden. Die Tafeln seien schon längst der Pannendienst der Gesellschaft geworden, dem Container des Mönchs Max Luger sollte ein solches Schicksal besser erspart bleiben.
Selkes Ziel seiner Begleitung des Projekts FairShar€ war nicht einen Schritt auf der Karriereleiter nach oben zu steigen, sondern mit der Form der Öffentlichen Soziologie, neue Publika zu erreichen und diese in eine notwendige öffentliche Debatte über ein gesellschaftlich relevantes Problem zu involvieren. Stefan Selke hat es sich nicht leicht gemacht, eine Form für diese Beobachtungen und Erfahrungen zu finden. Während des Schreibens mischte er sich so wenig wie möglich ein, lässt im Buch Max Luger, Vertreter anderer Organisationen und Betroffene zu Wort kommen.
Eine Auseinandersetzung mit dem Projekt ist im Epilog zu finden. Für ihn muss die Soziologie, wenn sie weiterhin als Anwalt des Humanismus versteht, narrativer (erzählender) werden. Dies setze aber ein grundlegend neues Wissenschaftsverständnis voraus, innerhalb dessen sich Schreiben mit Stimme als eine legitime Form sozialer Forschungspraxis etablieren kann. Er spricht von wütender Wissenschaft und zitiert Mahatma Gandhi: „Wut ist für einen Menschen wie Benzin für ein Auto – sie treibt einen an, damit man weiterkommt, an einen besseren Ort. Wut ist die Energie, die uns zwingt, zu definieren, was gerecht und ungerecht ist.“
Wütende Wissenschaft, so Selke, beinhaltet Veränderungswillen und somit auch Beteiligung. Selke sieht sein Buch als bescheidenen Beitrag zur Wiederentdeckung des erzählerischen Potenzials der Soziologie. Er zitiert den argentinischen Essayisten Marin Caparros: „Fachbegriffe vermeiden jede Emotion“. Es sollte kein Werk werden, das nur Eingeweihte verstehen, während die Mehrheit nicht begreift, worum es geht. Das ist Stefan Selke mit diesem Buch gelungen. Es kommt aber auch zum Ausdruck, dass eine Zuwendung nur ein warmer Regen sein kann, verlässlich ist sie nicht, weil Spenden eben freiwillig sind und den maroden Sozialstaat nicht auffangen können.
Der Geldverteiler vom Mirabellplatz – Eine soziale Utopie
Stefan Selke, Tectum Wissenschaftsverlag, 21,95 Euro