Die Überreizung unserer Gehirne

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Die Fülle banaler Nachrichten, die auf uns einprasselt, schadet unserer geistigen Gesundheit. Auszug aus „Wenn man weiß, wo der Verstand ist, hat der Tag Struktur“. „News“ bombardieren uns am Bahnsteig und in der U-Bahn, vor dem Zugriff auf unser Postfach und beim Herumzappen im Fernsehprogramm. Dabei geht es meist nicht um sinnvolle politische Information, sondern um ein Mischmasch aus Info-Fetzen — vom Fußballergebnis bis zum Alkohol-Exzess eines Hollywood-Sternchens. So viel Müll wie wir unserem Geist zumuten, würden wir nie in unseren Körper hineinlassen. Dass dadurch unser Gehirn unwiderruflich geschädigt werden kann, sehen weder wir Konsumenten noch die Nachrichten-„Produzenten“, die ein Geschäftsinteresse daran haben, uns süchtig zu machen. Die Schädigung des kollektiven Bewusstseins ist gegenüber unserer Zukunft so verantwortungslos wie die des Weltklimas.  Alexander Unzicker

Über die Wirkung kann man noch nicht endgültig urteilen. Aber hinsichtlich des Inhalts liegt Charlton wohl kaum falsch.

Millionen Nervenzellen feuern, sobald wir die Augen öffnen. Von der Netzhaut ausgehend verbreiten sich diese Signale zu den etwa hundert Milliarden Zellen im ganzen Gehirn. Dennoch ist das meiste der aus elektrischen Strömen bestehenden Information für immer verloren. Nur ein verschwindend geringer Teil wird chemisch in Synapsen gespeichert, jenen Verbindungspunkten zu anderen Nervenzellen, von denen jede Zelle über mehrere Tausend verfügt.

Auch der größte Teil dieser Kurzzeitspeicherung ist vorübergehend, und nur die allerwichtigste Information, abhängig von unserer Aufmerksamkeit und unserem emotionalen Zustand, bleibt als Langzeitgedächtnis erhalten, das erstaunliche Erinnerungsleistungen über Jahrzehnte hinweg vollbringt. Wir empfinden unser Gedächtnis wie ein Videoarchiv unseres bisherigen Lebens, obwohl die biologische Speicherfähigkeit gerade einmal für ein paar Wochen reichen würde.

Dem Schutz vor „Überschreiben“ von Gedächtnisinhalten dient unter anderem der hierarchische Aufbau des Gehirns, zu dem physiologisch schon die Netzhaut gehört. Ein raffinierter Mechanismus von Augenbewegungen sorgt dafür, dass wir unseren Blick auf das Wesentliche richten, vieles wird unbewusst ergänzt, sodass ein großer Teil unseres Gesichtsfeldes überhaupt nur aus einer Illusion besteht.

Das Bildgedächtnis spielte eine überragende Rolle in der Evolution. Die damit verbundene Fähigkeit, dreidimensionale Bewegungsabläufe im Gehirn zu simulieren, war wohl entscheidend dafür, dass wir unter den Tierarten auf der Erde heute eine herausragende Rolle einnehmen. Es ist das Gehirn, was uns zu Menschen macht. Nur aufgrund seiner besonderen Eigenschaften haben sich unsere Intelligenz und schließlich die Zivilisation entwickelt.

Das Gehirn und sein dominierender Kanal, das Sehen, sind ein fantastisches, aber auch filigranes System der Informationsverarbeitung. Es birgt unser gesamtes Wissen, unsere wertvollsten Erinnerungen und charakterisiert uns als Individuum. Angesichts dessen ist es doch gelinde gesagt erstaunlich, wie wenig wählerisch und in welchen Mengen wir heute Information aufnehmen. Das gilt erst recht, weil das Gehirn gar nicht anders kann, als zu lernen, auch bei sogenannter Unterhaltung. Mehr als wir wollen, sind wir das Produkt dessen, was wir wahrnehmen.

Mentale Fehlernährung

Welche Auswirkungen die moderne Informationsgesellschaft auf unsere Art hat, ist uns wohl kaum bewusst. Während des größten Teils der Menschheitsgeschichte hatte unser Gehirn nur wenige Bilder der vertrauten Umgebung zu verarbeiten, selbst Schrift musste erst mühsam erlernt werden. Die möglichen Folgen des exzessiven Konsums von Fernsehen, Computerspielen und digitalen Medien sind eigentlich offensichtlich, werden aber selten thematisiert (1).

Vor allem müssen uns dabei die noch sehr formbaren Gehirne von Kindern und Jugendlichen beunruhigen, insbesondere weil sich die Folgen für die Gesellschaft erst eine Generation später zeigen.

Wenn man zappelige Achtjährige beobachtet, die stundenlang nicht von ihrem Display lassen können, gerät man ins Grübeln. Langfristig könnte das zu einem Suchtverhalten wie bei Alkohol oder anderen Drogen führen.

Obwohl bei vielen Computerspielen nur primitive Reaktionsmuster gelernt werden, verbrauchen sie trotzdem mentale Ressourcen. Wenn ein Jugendlicher auf diese Weise den Abend vor dem Bildschirm verbracht hat und am nächsten Morgen beim Lernen entsprechend unmotiviert ist, sollte dies ebenso wenig verwundern wie Appetitlosigkeit nach einem Eimer von Kartoffelchips. Viele Jugendliche kommen heute in den Genuss von beidem.

Wie im Fall von Tabak wird der Konsum von einer Lobby gefördert, und die Folgen sind wohl von niemandem vorhersehbar. Ganz allgemein erinnert aber der leichtfertige Umgang mit unserem Gedächtnis an die unbedachte Verschmutzung der Umwelt zu Zeiten der Industrialisierung. Verantwortung für die nächsten Generationen ist nicht wirklich zu erkennen.

Digitale Vermüllung

Ebenso wie ganze Industriezweige davon leben, den Menschen nutzlose Produkte zu verkaufen und dabei Ressourcen zu Abfall zu verwandeln, profitieren heute Spiele und Computerhersteller sowie die Fernseh- und Unterhaltungsindustrie davon, die Gehirne der Menschen mit wertlosen Inhalten zu füllen. Leider verschwimmt die Grenze zur sinnvollen Information auch in den Nachrichten, wo es mittlerweile redaktionelle Berichte über den Inhalt von Krimis gibt und die nahtlos übergehen in Unwichtigkeiten und Klatsch jeder Art.

Es ist interessant, dass das Genre der Trivialnachrichten, also Ausrutscher, Trunkenheiten oder Beziehungsdramen von Filmsternchen und anderen B-Prominenten, überhaupt erst in den 1940er-Jahren erfunden wurde. An Tagen ohne Terroranschläge liegt ihr Anteil oft bei gefühlten neunzig Prozent. Die Gegenstimmen der Vernunft sterben aus; eine davon war der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki, der 2008 während einer live übertragenen Gala den Deutschen Fernsehpreis wegen „des Blödsinns, den wir heute Abend sehen mussten“, ablehnte (2).

In einer Art Fastenzeit des Verstandes wird die Öffentlichkeit fast jedes Jahr für mehrere Wochen durch sportliche Großereignisse wie Olympia, Fußball-EM oder WM auf intellektuelle Diät gesetzt. Der Geisteszustand der Nation während eines Halbfinales eignet sich dabei gut, unliebsame Gesetzesvorhaben zu verabschieden (3).

Im Gegenzug ist für deutsche Politiker der Besuch in der Mannschaftskabine schon zum Pflichttermin geworden.

Die Flut dringt durch die Dämme

Aber selbst wenn man sich den Boulevardnachrichten und anderen Ablenkungen erfolgreich entzieht und sich auf vermeintlich relevante Nachrichten konzentriert, hat man nur einen kleinen Etappensieg errungen. Denn die Massenmedien erreichen das Gehirn auf vielfältige Weise. Nicht nur verbringt der Durchschnittsbürger willentlich täglich Stunden vor dem Fernseher oder im Internet, um Informationen aufzusaugen, auch der in Muße lebende Zeitgenosse wird unablässig mit Meldungen bombardiert. An jedem Bahnsteig flimmern die »Breaking News« von den Bildschirmen, persönliche E-Mails kann man kaum mehr ohne den Blick auf die Schlagzeilen lesen, die in immer dichterer Frequenz ungefragt auf den Smartphones erscheinen.

Man betrachte die Form von Nachrichten in der historischen Entwicklung. Vor nicht allzu langer Zeit benötigten wir berittene Boten! Später erfand man die Zeitung, Radio und Fernsehen übertrugen dann um ein Vielfaches mehr Information, aber zunächst noch im Rhythmus eines Tages, der heute durch Internet und Smartphone weiter durchtrennt wird. Uns erreichen immer mehr Daten immer schneller, Videoclips aus aller Welt können wir im Minutentakt in unser Gehirn aufnehmen. Wir sind mit den modernen Medien am Puls der Zeit, aber auch schon oft an der Nadel der Nachrichtensucht.

Der Wissenschaftskritiker Bruce G. Charlton (4) thematisiert in seinem Buch Addicted to Distraction die Wirkung der Massenmedien. Charlton sagt, dass sie weder an Bildung noch am Wohlergehen der Menschheit interessiert sind, sondern aus Gier nach Macht und Geld Informationsmüll produzieren, welchen sie geschickt als Nachrichten verkaufen. Den dadurch angerichteten intellektuellen und psychologischen Schaden für die Menschheit erachtet er als enorm:

„Er besteht aus einer Desensibilisierung für das, was schockieren sollte; einen perversen Appetit auf das, was spontanen Ekel hervorruft; eine Vereinfachung von Denkprozessen; und eine fast universelle Über-Reaktivität auf irgendwelche Reize, die sowohl naiv als auch hysterisch ist.“

Quellen und Anmerkungen:(1) Wie etwa von dem Ulmer Gehirnforscher Manfred Spitzer.
(2) YouTube: Marcel Reich-Ranicki lehnt deutschen Fernsehpreis ab (volle Länge) (rotzloeffel32123)
(3) https://www.deutschlandfunk.de/ablenkungsmanoever-was-der-bundestagwaehrend-der-wm-alles.862.de.html?dram:article_id=289028
(4) „Süchtig nach Ablenkung.“

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