Fluchtwaisen – die Regierungen versagen

 In FEATURED, Politik
Amnesty mahnt Maßnahmen der österreichischen Regierung zur Lösung der Betreuungskrise von Fluchtwaisen an – und in Deutschland? Mitte November 2022 meldete sich Amnesty Österreich zu Wort. In den öffentlichen Debatten der letzten Wochen um die Unterbringung von Menschen auf der Flucht, ist völlig untergegangen, dass auch tausende Fluchtwaisen, das sind Kinder, die ohne ihre Eltern nach Europa fliehen mussten, von unzureichender Hilfe und mangelhafter Unterstützung betroffen sind. Immer noch verschwinden wöchentlich hunderte Kinder aus den Einrichtungen des Bundes in Österreich und gleichzeitig werden über 1.000 Minderjährige in Bundesquartieren mit unzureichender rechtlicher Vertretung und inadäquater Betreuung im Stich gelassen. Da die beteiligten staatlichen Institutionen (Bund, Länder) sich auf keinen gemeinsamen Weg verständigen können, soll eine Lösung der Fluchtwaisen-Krise zur Chefsache gemacht werden. Gewerkschaftsforum

 

Über 40 Organisationen arbeiten in der Kampagne KIND ist KIND seit Frühjahr diesen Jahres daran, die Betreuung von Fluchtwaisen in Österreich zu verbessern.

Auch in Deutschland ist es um die Situation junger unbegleiteter Menschen auf der Flucht ruhig geworden. Nachdem vor 2 Jahren an dieser Stelle schon berichtet wurde, dass in Deutschland 1.785 unbegleitete minderjährige Geflüchtete bei den Behörden als vermisst galten, erfuhr das Thema auch in der breiten Öffentlichkeit etwas größeres Interesse. Viele Menschen fragten sich, wie so etwas geschehen kann, wenn klar geregelt ist, dass die jungen Menschen fachkundig begleitet und behördlich erfasst werden und nur spekuliert werden kann, wo die Kinder und Jugendlichen geblieben sind.

Im Folgenden wird der Beitrag „Tausende Geflüchtete im Kindes- und Jugendalter werden in Deutschland vermisst“ aus dem Jahr 2020 noch einmal veröffentlicht und anschließend wird die Kampagne „KIND ist KIND – die Betreuung von Fluchtwaisen in Österreich verbessern“ vorgestellt.

Tausende Geflüchtete im Kindes- und Jugendalter werden in Deutschland vermisst…

Im Sommer 2020 waren rund 80 Millionen Menschen auf der Flucht, so viele wie noch nie zuvor. 90 Prozent der Geflüchteten werden von Nachbarländern aufgenommen und bleiben auch dort, lediglich 10 Prozent machen sich auf den Weg nach Europa. Erstmals kamen mehr Frauen und Kinder als Männer zu uns. Der Anteil der Kinder und Jugendlichen auf der Flucht hatte sich verdreifacht, insgesamt waren es weltweit über 30 Millionen Menschen unter 18 Jahren.

Kaum bekannt ist, dass eine hohe Zahl der unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten bei den Behörden als vermisst gemeldet ist. Im Frühjahr 2020 galten in Deutschland 1.785 unbegleitete minderjährige Geflüchtete bei den Behörden als vermisst, im Oktober 2016 hatte diese Zahl sogar bei 8.020 gelegen. Die meisten der vermissten Kinder und Jugendlichen stammen aus Afghanistan, Syrien, Marokko, Guinea und Somalia.

Obwohl klar geregelt ist, dass die jungen Menschen Angebote der Jugendhilfe in Anspruch nehmen, fachkundig begleitet und behördlich erfasst werden sollen, kann nur spekuliert werden, wo die Kinder und Jugendlichen geblieben sind.

Anfang 2019 galten in Deutschland nach Angaben des Bundeskriminalamts 3.192 minderjährige Geflüchtete als vermisst. 884 von ihnen waren Kinder bis 13 Jahre, 2.308 waren Jugendliche zwischen 14 und 17 Jahren.

Offiziell benannt werden die Kinder und Jugendlichen als „Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge (UMF)“

Weltweit sind derzeit über 30 Millionen Menschen unter 18 Jahren auf der Flucht. Auch in Deutschland reisen minderjährige Geflüchtete alleine, das heißt ohne Begleitung durch die Eltern ein. Sie kommen aus Kriegs-, Krisen- und Armutsgebieten der gesamten Welt. Der Anlass und die Hintergründe ihrer Flucht differieren je nach politischer und ökonomischer Lage im Herkunftsland.

Erreichen sie Deutschland und sind unter 18 Jahre alt, sind für ihre Betreuung und Förderung das örtliche Jugendamt und die Einrichtungen der Jugendhilfe zuständig.

Schutzmaßnahmen für die jungen Menschen sind nach deutschem Recht die Inobhutnahme nach § 42 Sozialgesetzbuch Achtes Buch (SGB VIII) und die Bestellung eines Vormundes nach den §§ 1693, 1773 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB), da die im Ausland lebenden oder verstorbenen Eltern die elterliche Sorge nicht ausüben können.

In der Regel werden die Kinder und Jugendlichen, die über keinerlei Kontakte zu Verwandten, Bekannten etc. verfügen, in einer Clearingstelle zur Klärung ihres individuellen Jugendhilfebedarfs untergebracht. Wenn die jungen Geflüchteten bei der Registrierung angeben, minderjährig zu sein, werden sie dem Jugendamt vorgestellt. Nach erfolgtem Clearing werden diese Kinder und Jugendlichen dann in einem Kinder- oder Jugendwohnheim untergebracht.

Seit dem Inkrafttreten der Gesetzesnovellierung am 01.11.2015 nimmt das Jugendamt die jungen Menschen nur noch vorläufig in Obhut, meldet sie der Landesverteilstelle und gibt sie anschließend an die aufnehmende Kommune ab. Wenn alles gut läuft, sind sie innerhalb der vorgegebenen Fristen von zwei bis vier Wochen auf die einzelnen Orte verteilt.

Wer es schafft in das Jugendhilfesystem zu kommen, erhält einen Vormund und eventuell gute Aussichten auf Schulunterricht, Ausbildungsplatz, Therapien, Wohnung, Gesundheitsversorgung und einen einigermaßen geregelten Alltag.

Soweit die Theorie.

In der Praxis geht es aber meistens um das Geld bzw. um die Kostenerstattung für den Aufenthalt der jungen Menschen. Dabei ist die Frage wichtig, wer „zuständig“ ist und die Kosten zu tragen hat. Die Jugendhilfe ist bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres im Rahmen des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (KJHG) verantwortlich und deshalb gibt es harte Auseinandersetzungen um das Alter der jungen Geflohenen in „Zweifelsfällen“.

Altersfeststellung von minderjährigen Geflüchteten

Unbegleitete Minderjährige dürfen in der Regel nicht abgeschoben werden – selbst nicht in andere EU-Länder. Das haben sowohl der Europäische Gerichtshof (2013) als auch das Bundesverwaltungsgericht (2015) klargestellt. Mit Vollendung des 18. Lebensjahres erlischt jedoch das Anrecht auf Jugendhilfe und Abschiebeschutz. Aus diesem Grund, so wird den jungen Menschen unterstellt, würden manche erwachsene Geflüchtete ihr wahres Alter bewusst niedriger angeben.

Nach Angaben des Kommunalverbandes Jugend und Soziales (KVJS) haben die Jugendämter zuletzt 36 Prozent derer, die sich als unter 18 Jahren vorstellten, für volljährig erklärt. Werden die Betroffenen aber als unbegleitete minderjährige Ausländer, kurz „Uma“, eingestuft, erhalten sie einen Sonderstatus.

Die gesetzliche Grundlage zur Altersfeststellung durch das Jugendamt findet sich in 42f SGB VIII: Behördliches Verfahren zur Altersfeststellung (Auszug):

„(1) Das Jugendamt hat im Rahmen der vorläufigen Inobhutnahme der ausländischen Person gemäß § 42a deren Minderjährigkeit durch Einsichtnahme in deren Ausweispapiere festzustellen oder hilfsweise mittels einer qualifizierten Inaugenscheinnahme einzuschätzen und festzustellen. […]

(2) Auf Antrag des Betroffenen oder seines Vertreters oder von Amts wegen hat das Jugendamt in Zweifelsfällen eine ärztliche Untersuchung zur Altersbestimmung zu veranlassen. Ist eine ärztliche Untersuchung durchzuführen, ist die betroffene Person durch das Jugendamt umfassend über die Untersuchungsmethode und über die möglichen Folgen der Altersbestimmung aufzuklären. Ist die ärztliche Untersuchung von Amts wegen durchzuführen, ist die betroffene Person zusätzlich über die Folgen einer Weigerung, sich der ärztlichen Untersuchung zu unterziehen, aufzuklären; die Untersuchung darf nur mit Einwilligung der betroffenen Person und ihres Vertreters durchgeführt werden. Die §§ 60, 62 und 65 bis 67 des Ersten Buches sind entsprechend anzuwenden“.

Für die Altersbestimmung junger Geflüchteter sind die Jugendämter zuständig. Liegen keine Ausweispapiere vor, soll das Jugendamt das Alter des Geflüchteten mittels einer „Inaugenscheinnahme“ schätzen. Dazu begutachten zum Beispiel zwei Mitarbeiter des Jugendamts während eines Gesprächs die mentale Reife sowie die körperliche Erscheinung der Person. Falls die Mitarbeiter die Angaben des Geflüchteten in Zweifel ziehen, kann das Jugendamt eine „ärztliche Untersuchung“ anordnen. Der Betroffene muss jedoch einverstanden sein.

Weigert sich die Person, kann das Jugendamt die Leistungen der Jugendhilfe stoppen.

Ist sie einverstanden, folgt eine rein körperliche Untersuchung, wie etwa die Begutachtung der Zahnreife. In Berlin und Hamburg dürfen dazu auch die Geschlechtsorgane begutachtet werden. Eine weitere Methode ist die Vermessung der Handwurzel, des Gebisses oder des Schlüsselbeins per Röntgenstrahlen. Im Landkreis Hildesheim wurde bei einem afghanischen Geflüchteten zur Altersbestimmung sogar einmalig ein DNA-Test durchgeführt.

Bei allen Methoden müssen die jungen Menschen und ihre gesetzlichen Vertreter jedoch vorab über mögliche gesundheitliche Risiken aufgeklärt werden und der medizinischen Altersfeststellung zustimmen. Die Altersfeststellung muss eindeutig dokumentiert werden.

Häufig wird die Frage gestellt, warum sich der Gesetzgeber nicht für ein zuverlässiges medizinisches Verfahren entschieden hat. Die Antwort darauf ist, dass es schlichtweg kein anerkanntes medizinisches Verfahren gibt, um das Alter eines Menschen eindeutig zu bestimmen.

Alle bekannten Methoden haben einen begrenzten Aussagewert und geben nur einen Rahmen an, innerhalb dessen sich das tatsächliche Alter bewegt. Der Gesetzgeber hat sich daher dazu entschieden, verschiedene Verfahren stufenweise miteinander zu kombinieren.

Die Altersfeststellung von jungen Geflüchteten ist also genau geregelt und niemand geht im Netz der Behörden dabei verloren. Deshalb ist es kaum zu glauben, dass niemand sagen kann, wo die im Oktober 2016 hohe Zahl von 8.020 oder im Frühjahr 2020 die niedrigere Zahl von 1.785 unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten, die als vermisst gemeldet wurden, verblieben sind.

Von den betreffenden Behörden, Initiativen und Nichtregierungsorganisationen werden auf die Frage zum Verbleib der jungen Menschen nur Mutmaßungen oder Annahmen als Antworten geäußert.

Mögliche Ursachen für das „Nicht-mehr-vorhanden-sein“

Die Verwirrung über die Ursachen für das „Nicht-mehr-vorhanden-sein“ der Kinder und Jugendlichen wird immer größer, je mehr man danach fragt, so

  • hat der Europol-Chef Brian Donald vor einer ausgefeilten, europaweiten „kriminellen Infrastruktur“ gewarnt, die ihr Augenmerk auf die jungen Geflüchteten gerichtet hätte. Er hatte nicht ausschließen wollen, dass manche der vermissten Kinder und Jugendliche Opfer organisierter Kriminalität geworden waren. Er musste aber einräumen, dass auch seine Behörde keine Ahnung hat, wo und bei wem sie sich aufhalten und wie es ihnen geht.
  • sieht der Präsident des Kinderschutzbundes, Heinz Hilgers, „keinen Anlass, an dem Bericht von Europol zu zweifeln“, dass Kriminelle die verzweifelte Lage der Kinder ausnutzten. Dabei seien Kinder, die in Deutschland ankommen, bis zu ihrer Inobhutnahme durch das zuständige Jugendamt nicht weniger gefährdet als auf der Fluchtroute in Europa.
  • fürchtet auch der Bundesverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (BumF), dass es einen „Kinderhandel“ gibt, den die Behörden gar nicht bemerken. Das gelte aber wohl nur in Einzelfällen für die in Deutschland offiziell vermissten minderjährigen Geflüchteten. Die meisten von ihnen seien vermutlich in andere Länder weitergezogen oder schlicht bei Verwandten und Freunden untergekommen. Aber es könne nicht ausgeschlossen werden, dass ein Teil der als vermisst gemeldeten Minderjährigen in Ausbeutungssituationen gelandet sei. So gebe es Hinweise, dass Minderjährige zur Prostitution und Diebstahl gezwungen würden, weil sie noch Schulden an Schlepper zurückzahlen müssten. Das Ausmaß sei aber nicht bekannt.
  • haben Kinderrechtsorganisationen wie „Save the Children“, Hinweise dafür, dass Banden solche Kinder versklaven, um sie sexuell auszubeuten oder für Hungerlöhne arbeiten zu lassen. Die Kinder werden häufig von ihren Eltern auf die Reise geschickt – in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Doch nicht allen gelingt dies, viele stranden, geraten unterwegs in die Fänge von Schleppern und werden ausgebeutet.
  • schließt das BKA nicht aus, dass ein Teil der verschwundenen Minderjährigen Verbrechern in die Hände gefallen sein könnte. Viele von ihnen wurden in Kinder- und Jugendheimen betreut, sind dann aber „verschwunden“.
  • betont die Bundesregierung, dass es sich bei den Zahlen um Vermisstenmeldungen handele und nicht um tatsächlich vermisste Personen. Daher könne aus den Daten keine pauschale Bewertung der Versorgungs- und Betreuungssituation unbegleiteter minderjähriger Geflüchtete in Deutschland abgeleitet werden. Auch würden unbegleitete Minderjährige zum Teil als vermisst gemeldet, wenn sie eigenständig zu ihren Familien weiterreisten. Anschließend gebe es häufig keine Rückmeldung, wenn die Kinder bei ihren Verwandten angekommen seien. Die Betreffenden würden dann dauerhaft als vermisst gelten. Auch komme es häufig zu Mehrfachregistrierungen (Bundestagsdrucksache 18/11540, S. 57 bis 58).
  • ist das Deutsche Kinderhilfswerk besorgt, dass bei als vermisst gemeldeten Kindern und Jugendlichen grundsätzlich von einer Gefahr für Leib und Leben ausgegangen werden müsse. Das Hilfswerk fordert vor diesem Hintergrund, intensiver als bisher nach den als vermisst gemeldeten Minderjährigen zu suchen. Außerdem würden gut ausgestattete Kinder- und Jugendhilfesysteme sowie verlässliche Aufenthaltsperspektiven und ein Anspruch auf Familiennachzug benötigt.
  • warnt die Organisation Missing Children Europe davor, dass kriminelle Netzwerke sich immer stärker auf unbegleitete Flüchtlingskinder konzentrierten und psychischen oder physischen Druck auf sie ausübten, damit sie die Betreuungseinrichtungen verlassen.
  • meint der „Mediendienst Integration“, die Vermisstenzahlen seien nicht verlässlich. Grund seien beispielsweise „Mehrfacherfassungen bedingt durch unterschiedliche Schreibweisen eines Namens, fehlende Personalpapiere oder eine fehlende erkennungsdienstliche Behandlung“

und so sagt das Jugendamt Dortmund, dass sie lautlos von der Bildfläche verschwinden, die Behörden erfahren nichts über ihren Verbleib. Es komme immer wieder vor, dass Jugendliche vor oder nach der Registrierung oder nach einem Gespräch mit dem Jugendamt abtauchen. „Manchmal nur für kurze Zeit, manchmal komplett.“ Wie oft das passiert und wie viele Jugendliche es betrifft, ist unbekannt. „Zahlen haben wir nicht“. Auch über mögliche kriminelle Strukturen wisse man nichts.

Wenn man nur die vergangenen 10 Jahre als Grundlage der Betrachtung nimmt, kann man davon ausgehen, dass rund 20.000 minderjährige Menschen auf der Flucht, die in Deutschland angekommen sind, offiziell von den Behörden als vermisst gelten, von der Dunkelziffer ganz zu schweigen. Dafür, dass dies eine riesige Tragödie, oftmals mit tödlichem Ausgang ist, zeigt das geringe öffentliche Interesse daran unverhohlen, wie wenig Wert dem Leben der minderjährigen Menschen auf der Flucht beigemessen wird.

…zurück nach Österreich

In Österreich verschwinden immer noch wöchentlich hunderte Kinder aus den Einrichtungen des Bundes und gleichzeitig werden über 1.000 Minderjährige in Bundesquartieren mit unzureichender rechtlicher Vertretung und inadäquater Betreuung im Stich gelassen.

Laut Wiener Zeitung waren es 2019 rund 600, im Jahr darauf 764 und 2021 schon 4.489 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, die nach dem Stellen des Asylantrags spurlos verschwunden sind. Setzt man diese Zahl in Relation zur Anzahl der unbegleiteten Minderjährigen, die ursprünglich um Asyl in Österreich ersucht haben, so sind im Vorjahr laut Innenministerium mehr als drei Viertel von ihnen scheinbar wie vom Erdboden verschluckt worden. Auch im ersten Quartal diesen Jahres wurden demnach bereits 1.462 Asylverfahren eingestellt, weil die Fluchtwaisen, wie die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge auch genannt werden, in Österreich nicht mehr auffindbar waren.

Über 40 Organisationen arbeiten in der Kampagne KIND ist KIND seit Frühjahr des Jahres 2022 daran, die Betreuung von Fluchtwaisen in Österreich zu verbessern. Sie appellieren angesichts der unerträglichen Situation mit einem offenen Brief an Bundeskanzler Nehammer und Vizekanzler Kogler. Da die beteiligten staatlichen Institutionen (Bund, Länder) sich auf keinen gemeinsamen Weg verständigen können, muss eine Lösung der Fluchtwaisen-Krise zur Chefsache gemacht werden.

OFFENER BRIEF ZUR BETREUUNGSKRISE VON MINDERJÄHRIGEN FLUCHTWAISEN AN BUNDESKANZLER NEHAMMER UND VIZEKANZLER KOGLER

 

„Sehr geehrter Herr Bundeskanzler Nehammer,
Sehr geehrter Herr Vizekanzler Kogler,

die Kampagne Kind ist Kind, die sich seit Frühjahr dieses Jahres dafür einsetzt, die Betreuung von Fluchtwaisen (unbegleitete minderjährige Fremde) in Österreich zu verbessern, appelliert angesichts einer sich zuspitzenden Situation in den Einrichtungen des Bundes an Sie, Herr Bundeskanzler Nehammer und an Sie, Herr Vizekanzler Kogler, die Lösung der derzeitigen Krise im Bereich der Betreuung von unbegleiteten minderjährigen Schutzsuchenden zur Chefsache zu machen.

Das Problem der ungeklärten Zuständigkeit für Fluchtwaisen nach ihrer Ankunft ist der Regierung bekannt, das Versprechen einer Lösung fand sogar ins Regierungsprogramm Eingang. Es ist inakzeptabel, dass über 1.000 Kinder ohne rechtliche Vertretung und adäquate Betreuung gelassen werden, weil sich die beteiligten Institutionen nicht auf eine Lösung des Problems einigen können. Einrichtungen der Bundesgrundversorgung wie Traiskirchen sind keine geeignete Wohnform für allein reisende Fluchtwaisen.

Aus Sicht der an der Kampagne teilnehmenden Organisationen sind folgende Maßnahmen unerlässlich:

  • Einrichtung von 5-6 Clearinghäusern entsprechend einer Krisenunterbringung der Kinder- und Jugendhilfe (KJH), verteilt auf verschiedene Bundesländer. Diese Stellen übernehmen die sofortige Zuständigkeit nach der Ankunft von minderjährigen Geflüchteten ohne Elternteil. Durch eine qualitativ hochwertige Versorgung und schnelle Perspektivenklärung der Minderjährigen in diesen Clearinghäusern wird die baldige Überstellung in permanente Quartiere der Bundesländer gewährleistet (den erweiterten Konzeptvorschlag finden Sie im Anhang).
  • Anhebung der Tagsätze auf ein den tatsächlichen Kosten entsprechendes Niveau durch eine Anpassung der Art 15a Vereinbarung. Eine regelmäßige Valorisierung dieser Beträge muss selbstverständlicher Teil dieser Regelung sein. Die finanzielle Situation der Einrichtungen für Fluchtwaisen hat sich in den letzten Monaten dramatisch zugespitzt, ohne Tagsatzerhöhung und Unterstützungsmaßnahmen zur Bewältigung der gestiegenen Energiekosten müssen die meisten Einrichtungen 2023 schließen. Dies würde die ohnehin katastrophale Betreuungssituation zusätzlich eskalieren. Essenziell ist auch das tatsächliche Angleichen der Standards in der Betreuung von Fluchtwaisen an jene der Kinder- und Jugendhilfe, da entsprechend der verfassungs- und menschenrechtlichen Vorgaben alle Kinder unabhängig von ihrer Herkunft die gleichen Rechte in Österreich genießen sollten.
  • Übernahme der Obsorge ab dem Tag der Ankunft durch die örtlich zuständige und entsprechend finanzierte KJH des Bezirks. Im Clearinghaus wird die Klärung des Alters und der Bedürfnisse der Kinder durchgeführt und die ersten relevanten Befragungen im Asylverfahren werden im Beisein eines multiprofessionellen Teams abgewickelt. Wenn ein*e Fluchtwaise aus der Clearingstelle in eine permanente Wohnsituation eines anderen örtlich zuständigen Kinder- und Jugendhilfeträgers wechselt, geht die Obsorge von Gesetzes wegen (ex lege) auf den neuen Kinder- und Jugendhilfeträger.
  • Der Vergleich mit anderen Ländern der Europäischen Union und entsprechende Judikatur zeigen: die österreichische Rechtslage steht im Widerspruch zu internationalen Menschenrechtsstandards. Aus diesem Grund erscheint ein aktuelles Handeln nicht nur aus menschlicher Perspektive sinnvoll, sondern hat eine dringende politische Notwendigkeit.
  • Lassen Sie uns daher gemeinsam eine kindgerechte und dem Kindeswohl entsprechende Lösung finden.

 

In diesem Sinne bitten wir um einen zeitnahen Gesprächstermin mit Repräsentant*innen der Trägerorganisationen der Kampagne KIND ist KIND“.

Weitere Infos:

https://www.amnesty.at/

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Die Initiative der 40 Trägerorganisationen der Kampagne KIND ist KIND in Österreich sollte Anlass sein, eine ähnliche Kampagne bei uns zu starten, die Situation der minderjährigen Geflüchteten in die Öffentlichkeit zu bringen und eine kindgerechte und dem Kindeswohl entsprechende Lösung zu finden.

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