Im Panoptikum der Macht

 In Buchtipp, FEATURED, Politik, Roland Rottenfußer

Über das Gefälle, das uns umgibt. Und die Sehnsucht nach dem Meer. Für Roland Rottenfußer steht fest: Ob sich der Wind der Freiheit erneut in unsere Richtung dreht, liegt an uns. In seinem neuesten Buch «Strategien der Macht» ergründet er nicht nur die Wurzeln dessen, was uns zuletzt den Boden unter den Füssen weggerissen hat – er erinnert uns daran, dass sowohl das Leben wie auch die Freiheit zu verblassen drohen, wenn man sie nicht täglich aufs Neue für sich bejaht.

 

Wie verhalten Sie sich an einer roten Ampel? Bleiben Sie stehen, bis diese auf Grün wechselt, oder genügt Ihnen ein Blick nach links und rechts, um mit einem sicheren Gefühl die Straße überqueren zu können? Befürchtete Max Horkheimer noch 1969, dass das Stehenbleiben an der Ampel als eine rationale, aber unüberlegte und damit Instinkt gewordene Verhaltensweise «in die Substanz des Menschen übergehen» könnte, kehrte der allgemeine Regelkonformismus der vergangenen drei Jahre diese Sorge in ihr Gegenteil: Staatsphilosophen wie Richard David Precht werten einen derartig vorauseilenden Gehorsam nicht mehr als Zwang und Unfreiheit, sondern als Pflicht und Aufgabe des Bürgers gegenüber dem Staat.

Wo aber beginnt Zwang und wo hört Freiheit auf? Dort, wo die des Anderen beginnt? Und was passiert, wenn der mehrheitliche Unwille zur Freiheit die Freiheit einer Minderheit beschränkt? Ist das noch (oder vielleicht erst recht) Demokratie? Oder bereits die «Demokratisierung der Repression»? Dass die Antworten auf diese Fragen unterschiedlicher nicht ausfallen können, wissen wir mittlerweile. Das, was der eine als autoritäre Bevormundung empfindet, erlebt der andere als wohlwollende Fürsorge. Woher aber kommt diese Willensverschiebung, seine eigene Klaviatur bespielen zu wollen?

Für Roland Rottenfußer ist es eine Frage der Macht. Gemeinsam mit Erich Fromm, Arno Gruen, George Orwell oder auch Václav Havel begibt er sich zurück zu den Ursprüngen totalitärer Empfänglichkeit sowie mangelnden Respekts vor dem freien Willen des Einzelnen: Denn was mit Propaganda und Freiheitsberaubung endet, begann meist mit frühkindlicher Introjektion und «pathologischer Treue», der Etablierung irrationaler Autoritäten, die wir oft zeitlebens – wenn auch unter anderem Gewand – als unsere Begleiter akzeptieren.

Wie aber können wir unsere innere Integrität bewahren oder zurückgewinnen? Und ist ein richtiges Leben im falschen überhaupt möglich? «Strategien der Macht» betont, dass der Wille zum Aufbruch und zur Heilung nicht aus den Sphären der Politik kommen wird, und kann. Was zählt, ist «dass diejenigen, die die ‹alte Normalität› noch gekannt haben, nicht müde werden, an sie zu erinnern». Und dass wir das Leben nicht bejahen, indem wir den Tod verneinen. Dem «Megatrend» unserer Epoche, der Abwendung vom Natürlichen und systematisch vorangetriebenen emotionalen Verflachung des Menschen, kann nichts und niemand etwas entgegenstellen, außer wir selbst.

Für Rottenfußer gilt: Wenn «Macht über die Seelen Macht über die Körper ersetzt», dann ist unsere Aufgabe, erneut eine Sehnsucht im Menschen zu entfachen, die stärker ist als jede Form der Unterdrückung – die Sehnsucht nach Freiheit, der Wunsch nach Liebe und Verbundenheit. Es liegt an uns, die derzeit vorherrschende destruktive Macht erneut in eine konstruktive zu verwandeln, in unsere eigene. Dies sei primär keine Aufgabe der Aufklärung, sondern der Bewusstseinsarbeit, der Spiritualität. Oder wie Roland Rottenfußer es so schön mit Antoine de Saint-Exupéry sagt: «Wenn Du ein Schiff bauen willst, dann trommle nicht Männer zusammen, um Holz zu beschaffen und Arbeiten einzuteilen, sondern lehre die Männer die Sehnsucht nach dem weiten, endlosen Meer.»

 


Diese Rezension erschien zuerst in der sechsten Ausgabe von «Die Freien».

Quelle: Lilly Gebert. Hier finden Sie auch eine Fassung mit mehreren Illustrationen

Roland Rottenfußer ist Journalist und Autor, Chefredakteur von «Hinter den Schlagzeilen» und seit 2020 Chefredakteur vom Rubikon, jetzt Manova. Sein neuer Rubikon-Bestseller erschien am 27. März und ist als Taschenbuch oder E-Book erhältlich.

Einen Kommentar hinterlassen

Beginnen Sie mit der Eingabe und drücken Sie Enter, um zu suchen