So machen Sie das Beste aus dem aktuellen Terroranschlag!
Ein Schnellkurs in 11 Schritten für Politiker. Barcelona, Paris, London, Nizza, Berlin, Brüssel, New York, München, Würzburg – die Landkarte ist dicht besät mit Schauplätzen des Terrors. Wegen der schnellen Folge der Katastrophen in den letzten Jahren ist es für Politiker nicht immer leicht, angemessen zu reagieren. Die gute Nachricht: Sie müssen Ihre Grundaussagen zum Anschlag nicht jedes Mal neu erfinden. Bestimmte Argumentationsstrategien haben sich bewährt und können – in Varianten – wiederverwertet werden. Anmerkung der Redaktion: Manches an diesem älterern Artikel lässt sich auch auf die Reaktionen der Politik auf eine gesundheitliche Bedrohung anwenden. Roland Rottenfußer
- Erwecken Sie den Eindruck, dass außer den Opfern des jüngsten Anschlags niemand gestorben ist. Es wird Ihnen schwer fallen, der Opfer und ihrer Angehörigen auf Kommando angemessen zu gedenken. Sie sind quasi mitgefühlsentwöhnt, haben im Parlament vielleicht Kriegshandlungen mit hunderten Toten zugestimmt, Ihre Bedenken über Drohnenangriffe und Foltergefängnisse „unserer amerikanischen Verbündeten“ weggelächelt, haben zugesehen, wie Betroffene unter dem Hartz IV-Regime seelisch und Menschen im globalen Süden in Folge Ihrer Wirtschaftspolitik auch körperlich gebrochen wurden. Jetzt sollen Sie plötzlich wegen einem Dutzend Opfern tiefe Ergriffenheit ausstrahlen. Nicht leicht, aber da müssen Sie durch. Machen Sie klar, dass es jetzt und bis auf weiteres kein anderes Thema als „die Opfer von Barcelona/Paris/London usw.“ geben kann. Sonst ist niemand gestorben – schon gar nicht durch Ihre Mitschuld
- Beschimpfen Sie Menschen mit einer differenzierten Meinung als Bagatellisierer und Relativierer. So flächendeckend Sie in bewährter Zusammenarbeit mit den Medien Ihr Thema auch ins öffentliche Bewusstsein drücken – es wird immer eine Minderheit von Leuten geben, die „ja aber…“ sagen. Tragen Sie Sorge, dass diese Störer im öffentlichen Raum völlig isoliert werden. Wer jetzt nach Ursachen für den Hass der Täter forscht, bagatellisiert die Tat und verhöhnt die Opfer. Er disqualifiziert sich somit für den politischen Dialog der Rechtschaffenen. Wer jetzt darauf hinweist, dass auch anderswo Verbrechen begangen und Menschen ermordet wurden, kann als „Barcelona-Relativierer“ (setzen Sie ggf. den Namen eines anderen Terror-Schauplatzes ein) abgekanzelt werden – jemand, der sich wie ein Geisterfahrer gegen den Strom des gesunden Volksempfindens stemmt. Die Abweichler werden dann bald verstummen, und Sie müssen berechtigte Kritik nicht länger fürchten.
- Verdächtigen und beleidigen Sie Muslime pauschal. Sie müssen es ja nicht gleich so plump machen wie Donald Trump, der riet, Muslime mit in Schweineblut getränkten Geschoßen zu töten und damit auch deren Religion beleidigte. Behaupten Sie nicht „alle Muslime sind Terroristen“ – das würde nur böses Blut geben –, aber belehren Sie Angehörige des Islam darüber, dass sie in diesen schweren Tagen in besonderer Weise dazu aufgerufen seien, sich von ihren gewalttätigen Glaubensbrüdern zu distanzieren. Verschonen Sie dagegen Christen völlig von derartigen Forderungen, obwohl die Taten der christlich-abendländischen Westallianz einigen Anlass bieten könnten, sich von ihnen zu distanzieren. Ermutigen Sie durch Ihre Islamkritik auch die Rechten im eigenen Land und zeigen Sie sich dann entrüstet über die Folgen, wenn etwa Flüchtlingsheime brennen und auf den Straßen rassistische Parolen skandiert werden.
- Behaupten Sie, dass nach dem jüngsten Anschlag nichts mehr so sei wie zuvor. Verwenden Sie wiederholt Sätze wie „Nach Barcelona muss die Sicherheitslage völlig neu bewertet werden“. „Nach Paris ist die Welt nicht mehr dieselbe, die sie einmal war.“ Oder „Nach Bad Aibling können keine Gedichte mehr geschrieben werden.“ Insbesondere gutmenschliches Humanitätsgefasel sei nach diesem Epochenwechsel obsolet geworden. Benutzen Sie von allen möglichen Beschreibungen des Vorgangs die drastischste. Bezeichnen Sie mehrfachen Mord unbedingt als Terrorismus, mehr als zwei Terroranschläge in jedem Fall als „Krieg“. Sie lösen dadurch bei den Bürgern und Medienkonsumenten einen Schockeffekt aus. Den können Sie nutzen, um Reformen durchzusetzen, gegen die sich in weniger gefährlichen Zeiten sonst Widerstand regen würde.
- Treiben Sie nun all die Einschränkungen von Menschen- und Bürgerrechten voran, nach denen Sie sich ohnehin schon lange sehnen. Sicher haben Sie einen solchen Maßnahmenkatalog schon in der Schublade, haben sich aber bisher nicht getraut, damit an die Öffentlichkeit zu gehen. Die Datenschützer, die Linken, die leidige Verfassung – sie zwingen manchmal zu einer Rücksichtnahme auf Bürgerrechte, die Ihnen an und für sich wesensfremd ist. Jetzt ist der Zeitpunk gekommen, um harte, aber notwendige Themen selbstbewusst auf die Tagesordnung zu setzen: Komplettüberwachung aller Kommunikationsvorgänge, Fußfesseln für alle, die bei einem Verstoß gegen die Verkehrsordnung erwischt wurden (oder bei denen ein solcher Verstoß zukünftig zu befürchten ist), Videokameras in jedem Privatraum (analog zu den Feuermeldern), Aufweichung des Folterverbots, die Todesstrafe und die Änderung von Paragraf 1 des Grundgesetzes in den Wortlaut „Die Würde des Menschen kann von der Bundesregierung je nach Sicherheitslage gewährt oder aberkannt werden“… Lassen Sie Ihrer Fantasie freien Lauf und Seien Sie nicht zu zimperlich. Benutzen Sie bei Ihren Forderungen möglichst oft die Worte „streng“, „scharf“ und „hart“, sie sind Balsam für die verschreckten Spießerseelen Ihrer Bürger.
- Machen Sie klar, dass Sicherheit von nun an das alles überragende Thema sei, dem sich alles andere zu beugen habe – Freiheit und Menschwürde inklusive. Stellen Sie das Thema „Sicherheit“ bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit in den Vordergrund, indem Sie z.B. „Sicherheitsexperten“ (niemals Freiheitsexperten) heranziehen und die Effizienz von „Sicherheitsorganen“ loben. Es ist ein schwieriges PR-Problem, die Bürger zur Preisgabe ihrer Freiheit zu bewegen – aber es ist ein lösbares, wie die Geschichte gezeigt hat. Suggerieren Sie, dass das Festhalten an Menschenrechten, die Gegenwehr gegen Überwachung und Freiheitsabbau eine Marotte von „ewig Gestrigen“ und „Menschenrechtsnostalgikern“ sei – Leute, die immer noch nicht begriffen haben, wohin die Reise geht. Die Menschen werden Ihnen gern darin folgen, denn sie legen Wert darauf „dazuzugehören“ und als „up to date“ zu gelten. Bringen Sie Kritiker zum Schweigen, indem Sie ihnen klammheimliche Komplizenschaft mit den Tätern durch den Boykott präventiver Verbrechensbekämpfung unterstellen.
- Schließen Sie Vergebung und Versöhnung aus, schließlich repräsentieren Sie das christliche Abendland. Ein Blick in die Geschichte könnte einige Ihrer Gegner auf die Idee bringen, es sei möglich, mit Feinden Frieden zu schließen. Das soll schon vorgekommen sein, wäre aber in der aktuellen politischen Lage gänzlich kontraproduktiv – vor allem mit Blick auf die Arbeitsplätze in der Waffen- und Sicherheitsindustrie. Und mit Rücksicht auf die geheime Agenda, der Sie sich bewusst oder unbewusst verpflichtet fühlen: die Errichtung einer Weltdiktatur unter Wahrung demokratischer Restinstitutionen mit Feigenblattfunktion. Halten Sie christliche Werte zwar in der Integrationsdebatte hoch, wenn es darum geht Muslimen zu zeigen, dass sie nicht „zu uns“ gehören; verzichten Sie aber gänzlich auf Feindesliebe-Gefasel, wenn es um den War on terror geht. Hier kann es nur eine angemessene Vorgehensweise geben, nämlich auf die Anschläge so brutal zu reagieren, dass noch mehr Wut geschürt wird und der Nachfolge-Anschlag auf den Fuß folgt. Argumentieren Sie stellvertretend für das christliche Abendland wie folgt: „Lass uns dasselbe tun wie die Mörder – nur mit gutem Gewissen, denn die haben ja angefangen.“ Reagieren Sie z.B. auf die Ermordung Unschuldiger in europäischen Großstädten mit der Ermordung Unschuldiger in der arabischen Welt – z.B. durch Drohneneinsatz.
- Geben Sie niemals irgendeinen Fehler aus der Vergangenheit oder die Wirkungslosigkeit einer Maßnahme zu. Ihre Vorgänger haben es vorgemacht und beispielsweise nie die Ereignisse des 2. Juni 1967 (Ermordung Benno Ohnesorgs) und den Vietnamkrieg als mitursächlich für die Morde der RAF anerkannt. Zeichnen Sie das Bild einer Gewaltspirale mit nur einem Pol. Schuld ist ausschließlich die Seite der „Anderen“. Erwecken Sie durch keines Ihrer Worte den Eindruck, Sie hätten etwas aus dem Scheitern früherer Versuche der Terror-Bekämpfung (etwa des Irak-Kriegs) gelernt. Korrigieren Sie offensichtlich falsche Maßnahmen, indem Sie selbstbewusst mehr des Falschen fordern. Alles andere könnte Ihnen von Ihren Wahlbürgern als Schwäche ausgelegt werden.
- Beschäftigen Sie sich auf keinen Fall mit den Motiven und der Biografie der Terroristen. Erwecken Sie den Eindruck, dass das Böse immer unerwartet und aufgrund einer unbegreiflichen, plötzlichen Entscheidung des Täters entsteht. Scheren Sie sich nicht darum, dass es mittlerweile erwiesen ist, dass viele Attentäter ihre „Terror-Sozialisation“ durch die Bombardierung ihrer Heimatstädte oder durch die Folter-Fotos von Abu Ghraib erfuhren – manche auch schlicht durch die empfundene Abscheu vor dem heuchlerischen Materialismus des Westens. Verurteilen Sie Terror auf das schärfste, während Sie gleichzeitig Ihr Bestes tun, um die Terrorursachen zu verewigen. Erschaffen Sie Monster, um dann publikumswirksam als Drachentöter aufzutreten, so dass verängstigte Bürger gern vertrauensselig bei Ihnen unterkriechen.
- Machen Sie klar, dass von den Anschlägen alle Bürger gleichermaßen betroffen sind. Dies hilft vor allem dabei, soziale Unterschiede in angenehmer Art verschwimmen zu lassen („In dieser Stunde der Not gibt es kein Arm oder Reich mehr, nur noch Deutsche/Europäer/Mitglieder der westlichen Wertegemeinschaft“). Lassen Sie dabei völlig unter den Tisch fallen, dass zwar alle Europäer gleichermaßen zu Opfern des Terrors werden könnten, dass aber nicht alle gleichermaßen für die Entstehung des Terrors verantwortlich sind. Sie bewirken so eine Soldarisierung der Bürger, deren Sicherheit Sie durch eine falsche Wirtschafts- und Kriegspolitik aufs Spiel gesetzt haben, mit Ihnen als ihren großherzigen „Beschützern“. Sie sind Teil der Bedrohung; erwecken Sie dessen ungeachtet den Eindruck, dass Sie Teil der Lösung sind.
- Erwägen Sie unter den möglichen Gegenmaßnahmen vor allem jene, die der Rüstungs- und Sicherheitsindustrie die größten Profite verspricht. Weder Diplomatie noch Versöhnung halten unsere Wirtschaft am Brummen. Mit einem schönen, fetten Krieg dagegen kann man gleich zweimal verdienen: an der Zerstörung und am Wiederaufbau. Waffen wollen nicht in Depots verrosten, sie wollen an der frischen Luft ausprobiert werden und müssen im wahrscheinlichen Fall ihrer Zerstörung kostenintensiv wiederbeschafft werden. Denken Sie auch an die Arbeitsplätze unserer Soldaten und Polizisten, Gefängniswärter, Hersteller von Rüstungsgütern und Foltergeräten, Drohnenpiloten und Landminenfabrikanten (und ihrer Familien). Sie haben dann noch ein zusätzliches Argument gegen Pazifismus und Freiheitsliebe in der Hand: beide schaden unserer Volkswirtschaft, und das wollen wir doch alle nicht, oder?