Tyrannen im Anzug

 In FEATURED, Wirtschaft

In den „demokratischen“ USA üben Konzerne oft diktatorische Macht über ihre Angestellten aus. In den USA haben Konzerne seit dem 19. Jahrhundert eine Macht auf sich vereint, die im weltgeschichtlichen Maßstab beispiellos ist. Arbeitnehmerrechten wurde dabei stets nur ein untergeordneter Stellenwert eingeräumt. Wie Chris Hedges, Pulitzer-Preis-Träger und Bestseller-Autor, eindrucksvoll darlegt, ist die Herrschaft, die Konzerne auch heute über ihre Arbeiter und Angestellten ausüben, beinahe allumfassend: Folgerichtig spricht Hedges von einer Diktatur der Konzerne.  Chris Hedges

Konzerndiktaturen, die ihren Angestellten verfassungsmäßige Grundrechte einschließlich der Redefreiheit wegnehmen und zunehmend auf Zeit- und Vertragsarbeiter setzen, die weder Sozialleistungen noch eine Arbeitsplatzgarantie erhalten, bestimmen das Leben von etwa 80 Prozent der amerikanischen Arbeitnehmer. Diese Konzerne überwachen und kontrollieren ihre Belegschaft unter geringer oder völlig ohne staatliche Aufsicht.

Sie führen nach Belieben Drogentests durch, ordnen strapaziöse Arbeitsquoten an und betreiben regelmäßig Lohndiebstahl; ferner verletzen sie ihre Arbeiter und verweigern ihnen anschließend eine angemessene Entschädigung, ignorieren Berichte über sexuelle Übergriffe bis hin zu Vergewaltigung. Sie lassen Vorgesetzte ihre Untergebenen schikanieren, wenden psychologische Tricks an – unter anderem auch die Pseudowissenschaft der Positiven Psychologie – und versuchen, mittels Einschüchterung Gehorsamkeit zu erreichen.

Sie werfen Mitarbeiter raus, wenn sie in den Sozialen Medien oder auf öffentlichen Veranstaltungen in ihrer Freizeit linke Meinungen äußern. Sie trennen sich von denjenigen, die Beschwerden einreichen und öffentlich die Arbeitsbedingungen kritisieren. Sie behindern jeden Versuch der gewerkschaftlichen Organisation, entlassen kaltherzig ältere Mitarbeiter und schreiben „Wettbewerbsverbotsklauseln“ in ihre Arbeitsverträge, die es Angestellten, die aus dem Unternehmen ausscheiden, verbieten, für andere Arbeitgeber im selben Industriezweig zu arbeiten. Inzwischen müssen Arbeitnehmer in fast der Hälfte aller technischen Berufe solche Klauseln unterzeichnen, wobei auch Niedriglohnjobs in Friseursalons und Restaurants zunehmend davon betroffen sind.

Unter der Knute

Je geringer die Löhne, desto gravierender die missbräuchlichen Arbeitsbedingungen. Arbeitnehmer in der Lebensmittelindustrie, im Hotelwesen, in der Landwirtschaft, im Baugewerbe, Einzelhandel und Lagerwesen sowie Angestellte in Call-Centern, Gärtnereien sowie dem Dienstleistungssektor generell, ebenso die Mitarbeiter in Gefängnissen, Krankenhäusern und Pflegeheimen leiden am schlimmsten. So untersagt etwa der Walmart-Konzern, der mit 1,4 Millionen Angestellten fast 1 Prozent der amerikanischen Arbeitnehmerschaft beschäftigt, seinen Mitarbeitern, sich am Arbeitsplatz miteinander zu unterhalten. Das wird als „Zeitdiebstahl“ bezeichnet. Der Nahrungsmittelgigant Tyson verbietet seiner Belegschaft den Gang zur Toilette, was dazu führt, dass sich viele von ihnen einnässen und manche sogar Windeln tragen müssen.

Und die älteren Wanderarbeiter, die Amazon oft beschäftigt, sind anstrengenden Zwölf-Stunden-Schichten ausgesetzt, bei denen die Firma jeden Handgriff elektronisch überwacht, um sicherzustellen, dass die stündlichen Quoten erreicht werden. Manche Amazon-Mitarbeiter müssen pro Schicht kilometerlang über Betonböden laufen und müssen immer wieder ihren Job auf allen Vieren verrichten, was häufig zu schweren körperlichen Schäden führt.

Körper- und Rechtsverletzung

Die Firma zwingt derart verletzte Angestellt, die sie rausschmeißt, ein Dokument zu unterschreiben, was besagt, dass ihre Verletzungen nicht von den Arbeitsbedingungen bei Amazon herrühren. Zwei Drittel der Beschäftigten im Niedriglohnsektor sind Opfer von Lohndiebstahl, ein Schaden, der sich in der Summe auf bis zu 50 Milliarden Dollar beläuft. Außerdem wurden zwischen 4 und 14 Millionen US-Arbeiter von ihren Arbeitgebern unter der Androhung von Lohnkürzung, Werkschließung und Entlassung gezwungen, konzernfreundliche politische Kandidaten und Anliegen zu unterstützen.

Konzerne, die das Leben von Millionen amerikanischer Arbeitnehmer bestimmen, bezeichnet die Philosophie-Professorin Elizabeth Anderson von der University of Michigan als „Privatregierungen“.

Diese „Arbeitsplatzregierungen“, schreibt sie, seien „Diktaturen, in welchen Vorgesetzte auf eine Weise Macht ausüben, die gegenüber den Regierten weitgehend unverantwortlich ist. Sie herrschen nicht nur über ihre Mitarbeiter: Sie beherrschen sie.“ Nach Anderson besitzen diese Konzerne die Rechtsmacht, „um auch über die Freizeit ihrer Belegschaft zu verfügen, einschließlich politischer Aktivitäten, Wahl des Sexualpartners, Drogenkonsum, Alkohol, Rauchen und Sport. Da die meisten Arbeitgeber ihre Autorität unregelmäßig und ohne Vorwarnung einsetzen, ahnt ein Großteil der Belegschaft nicht, wie weitreichend ihre Wirkung ist.“

Verzicht auf Bürgerrechte

„Würde es der US-Regierung einfallen, solche Vorschriften zu erlassen, würden wir zu Recht dagegen protestieren, dass unsere Grundrechte verletzt werden“, schreibt Anderson in ihrem Buch „Private Government: How Employers Rule Our Lives (and Why We Don’t Talk About It)“.

„Amerikanische Arbeiter verfügen jedoch nicht über solche Rechte gegenüber ihren Chefs. Allein schon wenn sie zu derartigen Einschränkungen ihre Stimme erheben würden, könnten sie ihren Job verlieren. Deshalb sagen die meisten lieber nichts.“

Im Grunde geben die Mitarbeiter mit der Unterzeichnung der Arbeitsverträge ihre Bürgerrechte für die Dauer des Vertrags an die Konzerne ab, abgesehen natürlich von den wenigen, die ihnen der Gesetzgeber garantiert. „Die Macht der Arbeitgeber über die Belegschaft“, schreibt Anderson, „ist außerhalb von Tarifverhandlungen und bis auf wenige Ausnahmen, wie zum Beispiel die Anstellung eines Universitätsprofessors weit reichend, willkürlich und unverantwortlich – und unterliegt nicht etwa öffentlichen Bekanntmachungen, ordentlichen Verfahren oder sonstigen Einspruchsmöglichkeiten. Der Staat hat die Verfassung einer Regierung am Arbeitsplatz etabliert; es handelt sich dabei um eine Art Privatregierung.“ Die Konzerne können per Gesetz, „eine viel minuziösere, genauere und weitreichendere Kontrolle ihrer Angestellten erzwingen, als es einem demokratischen Staat außerhalb von Gefängnissen oder des Militärs möglich wäre“.

Diese Vielzahl an Konzerndiktaturen oder Privatregierungen stellt sicher, dass sich die amerikanischen Arbeiter fügsam verhalten, da mit dem Konzernstaat als Überbau eine Art korporativer Totalitarismus zementiert wird.

Die vorherrschende Ideologie des Neoliberalismus und des Libertarismus, die man dazu nutzt, die Herrschaft der Konzerne sowie die uns alle belastende soziale Ungleichheit zu rechtfertigen, verkauft sich dabei als Beschützer der Freiheit. Sie tut das mittels einer List. Sie behauptet nämlich, dass die Arbeiter hinsichtlich der Unterzeichnung und Kündigung ihrer Arbeitsverträge frei seien, übergeht jedoch, dass die Bürgerrechte während der Zeit ihrer Anstellung fast vollständig aufgehoben sind.

Freie Arbeiter? Vonwegen!

Ferner tut sie so, als würden Arbeiter und Konzerne als unabhängige und autonome Verkäufer und Käufer agieren und die Arbeiter ihre Arbeitskraft frei verkaufen und Konzerne diese kaufen.
Dieses neoliberale Wirtschaftsmodel ist jedoch fehlerhaft. Die Beziehung, die ein Konzern mit einem Mitarbeiter eingeht, entspricht nämlich ganz und gar nicht jener, die beispielsweise ein selbständiger Bäcker mit seinen Kunden pflegt. Der selbständige Bäcker und diejenigen, die sein Brot kaufen, haben ein beiderseitiges Eigeninteresse an diesem Tausch.

„Der Käufer ist nicht der Untergebene, der um einen Gefallen bettelt“, so Anderson. „Ebenso wichtig ist es, dass es sich beim Käufer nicht um einen Vorgesetzten handelt, der befugt ist, den Fleischer, Braumeister oder Bäcker anzuweisen, die Früchte seiner Arbeit herauszugeben. Vielmehr müssen die Käufer auf die Interessen der anderen Partei eingehen. Alle Beteiligten bewerkstelligen die Transaktion unter Beibehaltung ihrer Würde, ihres Ansehens und ihrer von der Gegenseite anerkannten Unabhängigkeit. Damit handelt es sich um ein Modell sozialer Beziehungen von freien und gleichgestellten Personen.“ (Hervorhebung durch den Autor)

Sobald jedoch ein Arbeiter an einen Konzern gebunden ist, verliert er Würde, Ansehen und persönliche Unabhängigkeit, insbesondere dann, wenn die Arbeit zeitlich befristet oder niederer Art ist, oder wenn es sich um einen Einstiegsjob handelt. Die Beziehungen sind dann nicht mehr frei und gleich.

„Wenn Arbeiter ihre Arbeitskraft an einen Arbeitgeber verkaufen, liefern sie sich ihrem Boss aus, der sie dann herumkommandieren darf“, schreibt Anderson. „Anstatt dem Verkäufer seine Freiheit zu belassen, stellt ihn der Arbeitsvertrag unter die Autorität seines Chefs.“

Entweder erfüllt der Arbeiter die Forderungen des Managements, wobei ihm ja kaum eine Möglichkeit des Hinterfragens oder der Ausgestaltung gegeben ist, oder er wird gemaßregelt, degradiert, sanktioniert oder gefeuert.

Der Manager hat die totale Macht über den Arbeiter. „In der Umsetzung des Vertrags gibt es eine tiefgreifende Asymmetrie im Hinblick darauf, wessen Interessen zählen“, so Anderson. „Von nun an ist der Arbeiter gezwungen, unter Bedingungen zu schuften, die seine Interessen völlig außer Acht lassen und ausschließlich den Profit des Kapitalisten verfolgen.“

Der Neoliberalismus postuliert, dass es um die Wahl zwischen einem freien Markt und staatlicher Kontrolle gehe, wohingegen, wie Anderson meint, „die meisten Erwachsenen ihr Berufsleben ausschließlich im Rahmen einer dritten Gegebenheit verbringen: der Privatregierung.“ Der Neoliberalismus behauptet, die Essenz der Freiheit sei das freie Unternehmertum, thematisiert jedoch niemals die Preisgabe der Grundfreiheiten des Arbeiters. Der Neoliberalismus verspricht, was bereits vor der Zeit der Industriellen Revolution nicht wahr war, dass nämlich Arbeiter selbständig werden können, wenn sie nur hart arbeiten und erfinderisch sind. Uns allen sei die Möglichkeit gegeben, ökonomische Unabhängigkeit zu erlangen oder zu Industriekapitänen zu werden, wenn wir nur auf unsere inneren Ressourcen zurückgriffen, was ganz dem neoliberalen Mantra entspricht, das auch mithilfe der Massenkultur popularisiert wurde.

Die Lösung, die die neoliberalen Ideologen im Hinblick auf die Kannibalisierung der Wirtschaft bereithalten, besteht im Ruf nach einem Volk von Unternehmern. Das ist ein klarer Fall von Betrug. Indem Konzerne und ihre Lobbyisten die Gesetze und Bestimmungen schreiben, erschaffen sie nämlich ein zweistufiges System, in welchem auf der einen Seite Armut kriminalisiert wird und wir kontrolliert, besteuert und bestraft werden.

Auf der anderen Seite leben die Konzernoligarchen in einer Welt, in der Monopole, Betrug und andere Finanzdelikte legal sind oder nur selten bestraft werden und in der sie kaum oder gar keine Steuern zahlen. Ein winziger Prozentsatz der Bevölkerung beherrscht also die gesamte Konzernhierarchie, und die meisten, die Teil davon sind, haben ihren Reichtum geerbt und wurden in den Universitäten und Institutionen der plutokratischen Elite herangezogen.

Der öffentliche Diskurs, der unter der Kontrolle der Konzerne steht, ignoriert diese einseitige Machtverteilung völlig. Er kann ein Problem nicht angehen, dessen Existenz er leugnet.

Unterjochung ist Freiheit. Anderson bezeichnet dieses Wirtschaftssystem der Konzerne als kommunistisch – also kommunistisch mit einem kleinen „K“ – da diese Privatregierungen „in der Gesellschaft, die sie verwalten, alle Produktionsmittel außer der Arbeit besitzen. Die Produktion wird durch das Mittel der zentralen Planung organisiert. Die Form der Regierung ist eine Diktatur. Manchmal wird der Diktator von einer Oligarchie bestimmt. Dann wieder ist der Diktator selbsternannt.“

Privatregierungen, wiewohl es ihnen im Vergleich zum Staat mit dessen Möglichkeiten wie Inhaftierung und Hinrichtung an Sanktionsbefugnissen mangelt – auch wenn sie ja oft genug über interne Sicherheitskräfte verfügen, denen zum Beispiel Festnahmen möglich sind –, sorgen für die Befolgung ihrer Regeln mittels umfassender Überwachung und Androhung von Degradierung bis hin zur Vertreibung, außerdem mithilfe möglicher Belohnungen in Form von Gehaltserhöhungen und Beförderungen. Obendrein existiert zumeist noch ein fortwährender Schwall an Firmenpropaganda.

„Wir verfügen über eine Sprache zu den Themen Fairness und Verteilungsgerechtigkeit, die es uns ermöglicht, über niedrige Löhne und unzulängliche Leistungen zu sprechen; wir wissen genau, wie wir über den Kampf um 15 Dollar die Stunde sprechen, egal, auf welcher Seite man steht“, schreibt Anderson. „Allerdings wissen wir nicht so richtig, wie wir den Umstand ansprechen sollen, dass Vorgesetzte das Leben ihrer Belegschaft kontrollieren.“

Amerikanische Arbeiter haben sich nie das gleiche Spektrum an Rechten erkämpft wie die Arbeiter anderer Industrieländer. Selbst zur Zeit, als der Organisationsgrad der Gewerkschaften im Jahre 1954 besonders hoch war, waren nur 28,3 Prozent der amerikanischen Arbeiter Mitglied. Inzwischen ist diese Zahl auf 11,1 Prozent gesunken, wobei nur noch 6,6 Prozent der Arbeiter in der Privatwirtschaft einer Gewerkschaft angehören. Die Löhne schrumpfen oder stagnieren seit Jahrzehnten.

Die Hälfte aller Arbeiter in den USA verdient weniger als 29.000 Dollar im Jahr, das bedeutet, dass ihre Familien praktisch unterhalb der Armutsgrenze leben. Arbeiter haben ohne Gewerkschaften und ohne die Möglichkeit, mittels Tarifverhandlungen Druck auf ihr Management auszuüben, keinen Einfluss auf ihre Arbeitsbedingungen. Falls sie sich dazu entschließen, unwürdige Beschäftigungsverhältnisse zu verlassen – wohin sollen sie dann gehen? Die Ungleichheiten und der Verlust von Freiheit und Handlungsfähigkeit der Arbeitnehmer ist tief in den Strukturen der Konzerne verwurzelt.

Es ist unmöglich, warnt Anderson, eine freie und demokratische Gesellschaft zu errichten, wenn sie von Privatregierungen dominiert wird. Denn wenn diese Privatregierungen zu einem Superstaat der Konzerne verschmelzen, zementieren wir letzlich die unüberwindbare Tyrannei der Konzerne.

Es ist ein Wettlauf mit der Zeit. Unsere verbliebenen Freiheiten werden derzeit in rasantem Tempo ausgelöscht. Diese omnipotenten Diktaturen müssen zerstört werden, und das kann nur durch anhaltenden Protest geschehen, wie wir ihn in den Straßen von Paris sehen. Andernfalls werden wir in die Ketten des 21. Jahrhunderts gelegt werden.

Chris Hedges ist Journalist, Pulitzer-Preis-Träger und Autor der New York Times-Bestsellerliste. Er war früher Professor an der Princeton Universität, Aktivist und ordinierter presbyterianischer Pastor. Unter seinen Büchern befinden sich Bestseller wie „Der Lohn des Aufstands: Der moralische Imperativ der Revolte“, „Das Reich der Illusion: Das Ende der Bildung und der Triumph des Spektakels“ und „Amerikanische Faschisten: Die christliche Rechte und der Krieg mit Amerika“. Sein Buch „Krieg ist eine Kraft, die uns Bedeutung verleiht“ wurde 40.000 Mal verkauft und war Finalist des Nationalen Preises des Buchkritiker-Verbandes für Sachliteratur. Er schreibt eine wöchentlich erscheinende Kolumne für das Internet-Magazin Truthdig und moderiert die Sendung „On Contact“ bei RT America.

*Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text erschien zuerst unter dem Titel „The ‘Private Governments’ That Subjugate U.S. Workers“.

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Dank an den Rubikon, www.rubikon.news, wo dieser Artikel zuerst erschienen ist.

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