Weniger Ökonomie wagen!

 In FEATURED, Roland Rottenfußer, Wirtschaft

Wenn wir eine menschlichere Gesellschaft schaffen wollen, genügt es nicht, über neue Formen des Wirtschaftens nachzudenken. Auf den Prüfstand muss das ökonomische Denken selbst und seine Ideologie einer Welt als Ware. Kapitalismus und Marxismus sind wie Äste ein und desselben Baumes. Es käme aber darauf an, einen ganz neuen Baum zu pflanzen. Roland Rottenfußer

 

Pater Lukas besitzt kein Portemonnaie. Der fast 80-jährige lebt ohne Geld. Sein Priestergehalt, das ihm für seine Dienste in einer kleinen Landgemeinde zusteht, gibt er an einen Mönchsorden weiter, bei dem er ordiniert ist. Dafür stellt der Orden für ihn Unterkunft, ein Auto, Benzin und ein kleines Taschengeld. Letzteres gibt Pater Lukas allerdings vollständig an die ihm aus der Ferne betreute Waisenkindermission in Namibia (Südwest-Afrika) weiter. Für ihn selbst bleibt nichts. Wovon Pater Lukas lebt? Jeden Werktag nimmt er sich die Reste mit nach Hause, die von der Mittagsverpflegung des Kindergartens übrig bleiben, den er als Seelsorger betreut. Am Wochenende, wenn er nicht von einem seiner Gemeindemitglieder zum Essen eingeladen wird, kann es schon mal knapp werden. Doch Pater Lukas ist nicht anspruchsvoll. Sein Lebensantrieb liegt auf einer anderen, einer geistig-spirituellen Ebene, sie ist konsequent anti-ökonomisch. „In den Mönchsorden wird der eigentliche Kommunismus gelebt“, sagt er.

Ist Pater Lukas ein Exot, ein Ausbund haarsträubender ökonomischer Ignoranz, dessen Beispiel nicht verallgemeinert werden kann? Es gibt mehr Menschen wie Pater Lukas als man meinen sollte. Die meisten von ihnen leben unfreiwillig in Not und Knappheit, doch um die geht es mir hier nicht. Heidemarie Schwermer etwa wurde vor einigen Jahren bekannt durch ihr Buch „Das Sterntaler-Experiment“. Sie schildert darin, wie sie seit 1996 buchstäblich ohne Geld lebt, überwiegend durch Arrangements, die es ihr ermöglichen, bei Fremden Haus zu hüten und dabei deren reich gefüllte Speisekammer nutzen zu können. Von Ort zu Ort bewegt sie sich, indem sie Leute am Bahnsteig anspricht, die sie auf ihrer Mehrpersonen-Karte umsonst mitfahren lassen. Heidemarie Schwermer will mit ihrem Selbstversuch auch darauf hinweisen, wie selbstverständlich wir Geld als allgegenwärtige und unverzichtbare Daseinsgrundlage betrachten.

Dabei gibt es „Sterntaler-Experimente“ nicht erst seit 1996. Franz von Assisi, Sohn eines reichen Kaufmanns, verschenkte seinen ganzen persönlichen Besitz an die Armen. Als ihn sein Vater dafür öffentlich zur Rede stellte, entkleidete er sich vor versammelter Bürgerschaft auf offener Straße und gelobte, von nun an nur noch Gott anzugehören. In Assisi ist noch die Kutte des Heiligen Franziskus zu besichtigen, aus graubraunen, grob gewebtem Stoff, mehrfach geflickt und zerrissen, eher einem Kartoffelsack als einem Kleidungsstück ähnelnd. Franz von Assisi war als außergewöhnlich heiterer Mensch von großem Gottvertrauen bekannt. Außer seiner Kutte hat mir ein anderes Bild unauslöschlich eingeprägt, jenes von Mahatma Gandhis ganzem Besitz. Das Foto zeigt zwei paar alte Sandalen, eine Brille mit runden Gläsern, ein Buch, eine Reisschale, eine Teeschale, nicht wesentlich mehr als das.

Nun sind Gandhi und Franz von Assisi sicher Ausnahmemenschen, ihnen nachzueifern würde die meisten von uns sicher überfordern. Und doch gibt es eine Fülle weniger spektakulärer „Fälle“, die bestens belegen, dass die scheinbar undurchdringliche Asphaltdecke des ökonomischen Nutzendenkens an der einen oder anderen Stelle Risse bekommt, an denen schöne Blüten der Güte und geistigen Freiheit hervorlugen können. So etwa die Geschichte von einem Musiker, der sich bereit erklärte, der Tochter seines Freundes Klavierunterricht zu geben – unter einer Bedingung: dass er keine Bezahlung dafür bekäme. Oder die Geschichte einer Frau, die ehrenamtlich einsame alte Menschen besucht, sich ebenso ehrenamtlich für die Einführung einer Regionalwährung einsetzt und dafür ihre „Einkommen generierenden“ Tätigkeiten sträflich vernachlässigt. Es gibt unzählige solcher kleinen Geschichten, wenn wir nur genau hinsehen. Wir weniger „Edlen“ können also durchaus begründen, warum wir ökonomisch, warum wir gewinnorientiert und eigennützig handelt. Nur soll bitte niemand so tun, als sei die Entscheidung, die er zugunsten des Eigennutzes getroffen hat, alternativlos, als entspräche sie einem unumstößlichen Lebensgesetz.

Was ist eigentlich Ökonomie? Sie beruht auf zwei Grundprinzipien:

  1. Verkaufe umso teurer, je knapper und daher begehrter ein Wirtschaftsgut ist.

Zu diesem Thema schrieb Silvio Gesell (1862-1930), der Begründer der Freiwirtschaftslehre: „Mit der Inbesitznahme oder Aneignung eines Gegenstandes, den man nicht selbst gebrauchen kann, der aber, wie wir annehmen oder wissen, von anderen gesucht wird, können wir nur einen Zweck verfolgen: wir wollen diesen anderen Verlegenheiten bereiten und diese Verlegenheiten ausbeuten.“ Besonders perfide wirkt dieses ökonomische „Gesetz“, wenn Pharmakonzerne den Kranken in der Dritten Welt lebenswichtige Medikamente nur zu extrem hohen Preisen abgeben oder wenn sie die Eigenproduktion identischer Medikamente unter Hinweis auf das Patentrecht verbieten.

  1. Kaufe billig ein, und verkaufe teuer.

Beide Grundsätze sind heute so allgegenwärtig, dass man sie nicht einmal mehr als Meinungen neben anderen Meinungen wahrnimmt, sondern als pure Selbstverständlichkeit. „Wenn jeder für sich selber sorgt, dann ist für alle gesorgt“, lautet ein wohlfeiles Sprichwort“. Die klassische Ökonomie gründet seit Adam Smith (1723-1790) auf dem Egoismus, der sich – wenn ihm alle nun konsequent genug frönen – zum Wohle Aller auswirken soll. Das Geschäftsleben wird so zu einem Hahnenkampf zweier Akteure mit gleichermaßen egoistischer Gesinnung. Dem Geschäftskrieg vorangegangen ist oft ein „Wettrüsten“, bei dem sich jeder Kontrahent mit neuesten Manipulations-, Verkaufs- und Marketingtaktiken ausgestattet hat. Auch eine noch so ausgefeilte Theorie kann aber das hässliche Gesicht des Egoismus nicht schön schminken. Die Behauptung, dass eine Ansammlung profitgieriger Menschen eine gute Welt schaffen könnte wäre gleichbedeutend mit der Annahme, lauter kranke Bäume ergäben einen gesunden Wald.

Der Mensch hat bei Interessengegensätzen drei grundsätzliche Alternativen: 1. Er nimmt seinen eigenen Nachteil für den Vorteil des Anderen in Kauf. 2. Er gewichtet beide Interessen gleich stark und sorgt für einen gerechten Ausgleich. 3. Er sucht seinen eigenen Vorteil auf Kosten der Interessen des Anderen. Der herrschende Geist des Ökonomismus favorisiert fast ausschließlich Variante 3. Darüber kann auch modisches Gerede über „Win-Win-Strategien“ (bei denen beide Teilnehmer gewinnen) nicht hinwegtäuschen. Rücksichtnahme auf den Geschäftspartner ist im Rahmen einer ökonomistischen Ideologie entweder eine Ausnahme von der Regel oder sie betrachtet das Wohl des Partners als Voraussetzung für das eigene Wohl, macht Rücksichtnahme also quasi zum Produktionsfaktor. Damit stellt sich der Ökonomie im Übrigen quer zur Ethik beinahe aller religiöser Bekenntnisse. So sagte der Buddha: „Schlecht ist, was du aus der Kraft und dem Gut anderer erzwingst oder erschleichst, ohne dass es dir gewährt wurde.“

Den Vorwurf, der Kapitalismus degradiere die Welt, insbesondere die menschliche Arbeitskraft zur Ware, wurde schon von Karl Marx erhoben: „Der Arbeiter wird eine umso wohlfeilere Ware, je mehr Waren er schafft. Mit der Verwertung der Sachwelt nimmt die Entwertung der Menschenwelt in direktem Verhältnis zu. Die Arbeit produziert nicht nur Waren; sie produziert sich selbst und den Arbeiter als eine Ware.“ (Ökononisch-philosophische Manuskripte). Verfolgt man dagegen die Argumente der Linken in den aktuellen politischen Debatten, so fällt auf, dass sie kaum jemals die „Entwertung der Menschenwelt“ und damit den anti-humanen Charakter des Ökonomismus kritisieren. Vielmehr wird im Hinblick auf die zunehmende Verarmung der Arbeitnehmer hauptsächlich der Verlust von „Kaufkraft“ und „Binnennachfrage“ beklagt.

Dieses Argumentationsschema belegt, wie tief das Denken in Kategorien von Wirtschaftlichkeit und Effizienz schon in den Köpfen der Menschen, selbst der Linken verankert ist. Kaum einer traut sich, höhere Löhne und Gehälter einfach deshalb zu fordern, weil etwas mehr finanzieller Spielraum die Menschen freier und glücklicher machen würde. Es geht eben nicht um das Glück der Menschen, sondern darum, inwieweit wir in der Lage sind, der Wirtschaft in unserer Funktion als Konsumenten zu dienen. Kapitalismus und Marxismus sind einander insofern nicht völlig wesensfremd, sondern gleichen eher feindlichen Brüdern. Beiden Ideologien gemeinsam ist der Grundsatz: „Alles wird von der Ökonomie bestimmt und ist auf sie zurückzuführen. Daher kann auch die Befreiung nur von der ökonomischen Ebene ausgehen.“ Linke und neoliberale Ideologien sind wie zwei Äste ein und desselben Baumes. Es käme aber darauf an, einen ganz neuen Baum zu pflanzen.

Die französische Schriftstellerin Viviane Forrester schreibt über das derzeit herrschende neoliberale System: „Es ist streng, tyrannisch und überall verbreitet, aber konturlos, und daher schwer ausfindig zu machen. Es wurde nie als politisches System proklamiert und hält doch alle Fäden der Wirtschaft, die es auf das Geschäftemachen reduziert, in der Hand. Das Geschäftemachen ist darauf gerichtet, sich alles einzuverleiben, was noch nicht zu seiner Sphäre gehört.“ Mit dem Slogan vom „Terror der Ökonomie“ (im Original eigentlich: „L’horreur économique“ = Schrecken der Ökonomie) hat Forrester die Grundzüge der neuen Weltordnung sehr pointiert beschrieben.

Zur herrschenden einseitigen Profitlogik schreibt sie: „In Wirklichkeit beschäftigen sich die Texte und Reden, die die Probleme der Arbeit und damit der Arbeitslosigkeit analysieren, allein mit dem Profit, er bildet ihre Grundlage, ihre Matrix, ohne dabei jemals genannt zu werden. (…) Er steht ganz oben und bildet so offensichtlich die Grundlage für alles, dass man ihn verschweigt. Alles ist von ihm abhängig, ist auf ihn ausgerichtet, wird in Abhängigkeit von ihm geplant, verhindert oder verursacht, er erscheint so unausweichlich, als wäre er mit dem Wesen des Lebens verschmolzen.“

Neben Viviane Forrester ist es vor allem die kanadische Globalisierungskritikerin Naomi Klein, die die Durchdringung aller Lebensbereiche der modernen Welt mit Werbe- und Verkaufsinteressen scharf kritisiert. Vor allem nimmt sie Markenfirmen wie Shell, Nike, McDonalds oder Starbuck aufs Korn, die den öffentlichen Raum (der ja eigentlich allen Bürgern zur Verfügung stehen sollte) zur Werbefläche verkommen lassen: „Sie versahen nicht mehr nur ihre eigenen Produkte mit Markenzeichen, sondern drückten auch der Kultur, die nichts mit ihren Produkten zu tun hatte, ihre Markenzeichen auf. So gingen sie hinaus in die Welt, sponserten kulturelle Veranstaltungen und beanspruchten damit Teile dieser Welt als Brückenköpfe für ihren Markennamen. Für diese Unternehmen war Markenpolitik nicht nur ein Mittel, bei einem Produkt einen Wertzuwachs zu erzeugen. Sie war vielmehr von einem unbändigen Hunger nach kulturellen Ideen und Metaphern geprägt, die regelrecht aufgesogen und als ‚Markenerweiterung’ wieder in die Kultur zurückgespien wurden.“

So wird, da ja jeder Euro nur einmal ausgegeben werden kann, der Wahn der teuren und aufdringlichen Werbekampagnen zu eine zusätzlichen Gefahr für die soziale Gerechtigkeit. Naomi Klein schreibt dazu: „Wenn die millionenschweren Sponsoringverträge unterzeichnet sind und die Coolness-Jäger und Marketingexperten ihre Schecks bekommen haben, dann ist vielleicht nicht mehr allzu viel Geld übrig.“ Der Anspruch der Arbeitnehmer auf angemessene Bezahlung konkurriert so nicht nur mit der Renditengier der Anleger und dem dreisten Zugriff der Topmanager auf obszön hohe Gehälter, sondern auch dem überzogenen Selbstdarstellungsbedürfnis der Markenfirmen. „Mit den verschwenderischen Ausgaben für Marketing, Fusionen und Markenerweiterungen in den Neuzigerjahren ging ein historisch beispielloser Widerwille einher, in Produktionseinrichtungen und Arbeitskräfte zu investieren (…) Wenn der eigentliche Produktionsprozess so abgewertet wird, steht zu vermuten, dass es den Menschen, die die produktive Arbeit leisten, ebenso ergeht.“

So ist es in der Tat. Das Wesen des ökonomischen Denkens, das zu einer Menschenverwertungs-Mentalität verkommen ist, kann man sehr drastisch aus einem historischen Beispiel belegen: den Sklaventransporten von Afrika nach Amerika im 18. Jahrhundert. Ein Augenzeuge, Pfarrer John Newton berichtet über die Zustände auf den Sklavenschiffen: „Die Sklaven liegen in zwei Schichten übereinander … so dicht beieinander wie Bücher in einem Regal. Ich habe es erlebt, dass sie so eng zusammengepfercht waren, dass man wirklich keinen mehr hätte hineinpressen könnten. Die armen Kreaturen sind zudem noch mit Ketten gefesselt … Jeden Morgen fand ich in mehr als nur einem Fall, dass da ein Toter an einen Lebendigen gefesselt lag.“

Es gab damals unter den Kapitänen von Sklavenschiffen zwei Typen, die man „loose packers“ und „tight packers“ nannte. Die „loose packers“ gaben den Afrikaner etwas mehr Raum, damit eine ausreichend Anzahl von ihnen gesund und arbeitsfähig am Bestimmungsort ankam. Den „tight packers“ kalkulierten dagegen hauptsächlich mit einer extrem hohen „Stückzahl“. Dafür nahmen sie eine höhere Verlustrate durch Tod und Krankheit in Kauf. Man kann von einem moralischen Standpunkt aus über die „tight packers“ sagen, was man will, sie waren in jedem Fall ausgezeichnete Geschäftsleute. Das Beispiel beweist natürlich nicht, dass „Die Wirtschaft“ pauschal das Reich des Bösen ist, es zeigt lediglich, was geschehen kann, wenn man ein Denkprinzip von jeglicher humaner Rücksichtnahme „befreit“. Wenn man aufhört, den Einzelmenschen als fühlendes, leidendes und nach Glück verlangendes Wesen wahrzunehmen, und ihm im Sinne Kants als „Mittel“, nicht als „Zweck“ allen Handels betrachtet.

Wenn wir eine bessere Welt schaffen wollen, dürfen wir uns nicht damit begnügen, innerhalb der ökonomischen Logik Verbesserungen vorzunehmen; wir müssen dieser Logik selbst den Kampf ansagen, die sich in weiten Teilen der Gesellschaft als die einzig mögliche, die einzig erlaubte Logik gebärdet. Dazu bedarf es zunächst einer „Gegenlogik“ eines umfassenden philosophischen Gegenentwurfs, dessen Hauptbestandteile man keineswegs neu erfinden müsste. Alles ist schon da und von wunderbaren Denkern und warmherzigen, hellsichtigen Menschen gesagt worden. Im Anhang habe ich ein paar „antiökonomistische“ Klassiker aufgeführt, die mir bekannt sind: von Erich Fromms „Haben oder Sein“ bis zu Michael Endes „Momo“. Wir müssen also für das, was wir sagen und kritisieren wollen, eine eigene Sprache (wieder)finden und die uns vorgegebenen Sprach- und Denkmuster abschütteln wie ein Netz, in das man uns zu fangen versucht.

Wer den Jüngern des Profits mit Argumenten wie „ein bisschen Ethik nützt dem Betriebsklima und damit langfristig auch dem unternehmerischen Erfolg“ entgegen tritt, hat schon verloren. Er hat sich der dem System innewohnenden Logik willig unterworfen. Im Rahmen seiner eigenen Begrifflichkeiten hat der Ökonomismus aber fast immer „Recht“ und ist schwer widerlegbar. Drastisch ausgedrückt kann man die schrittweise Umstellung eines Betriebs auf Sklavenarbeit immer mit der Sorge um Arbeitsplätze begründen. Innerhalb des ökonomischen Denkrahmens könnte man dann bestenfalls argumentieren, Sklaven verfügten über eine zu geringe Kaufkraft, um die Unmenschlichkeit eines solchen Systems wenigstens ein bisschen abzumildern. Was nötig ist, ist ein entschlossenes „Nein“ zur Sklaverei, zur ökonomischen Verwertungslogik, zur Vereinnahmung der nichtökonomischen durch die ökonomische Sphäre – ob in den Entwicklungsländern oder bei uns.

Ökonomie ist ein nützliches Werkzeug, wenn es vernünftig gehandhabt wird. Sie dient dann dazu Güter so zu organisieren und zu verteilen, dass möglichst viele Menschen Zugang zu ihnen haben (die neuseeländische Kiwi im oberbayerischen Obstkorb) und sichert gleichzeitig den Lebensunterhalt aller am Produktions- und Verteilungsprozess Beteiligten. So verstanden hat die Ökonomie eine sinnvolle, dienende Rolle. Als Herrin oder gar Göttin des Menschen ist sie eine glatte Fehlbesetzung. Jede Denkdisziplin ist sinnvoll und in sich stimmig an ihrem eigenen Platz und solange sie sich mit den Anwendungsgebieten zufrieden gibt, die ihr angemessen sind. Die Ökonomie aber denkt gar nicht daran, sich zu bescheiden. Sie besteht darauf, auch in der Literatur, in der Kunst, in der Erziehung, in der Naturwissenschaft, in der Nahrungsversorgung, im Medizinbetrieb, im Strafvollzug, ja sogar in der Einschätzung der menschlichen Seele Einfluss auszuüben. Es ist unübersehbar, dass es überall, wo ein Lebensbereich mit wirtschaftlichem Denken infiziert wird, wo also z.B. eine staatliche Einrichtung als „Betrieb“, ein menschliches Zusammenwirken als „Geschäft“ definiert wird und Profitinteressen betroffen sind, eine fortschreitende Vergiftung eben dieser Sphäre stattfindet.

Intelligenz würde per definitionem „die Fähigkeit zum Erkennen von Zusammenhängen und zum Finden optimaler Problemlösungen“ beinhalten. Insofern würde eine intelligente Ökonomie zumindest das grundlegendste aller menschlichen Probleme zu lösen versuchen: die Bedrohung seines Überlebens durch Mangel an lebensnotwendigen Gütern. Dazu gehört auch das Vermeiden unnötiger Ausgaben, damit es nicht an Mitteln fehlt, um sich die nötigen leisten zu können. Diese ökonomische Intelligenz ist allerdings im heute weltweit vorherrschenden neoliberalen Wirtschaftssystem nicht gegeben. Sie leistet es sich, dass Geld in großen Mengen dorthin fließt, wo es nicht gebraucht wird und dort fehlt, wo es gebraucht wird. Es leistet sich Entwicklungshilfe für die Reichen, die finanzielle Unterstützung einer Absahner-Kaste, der es längst nicht mehr um die Sicherung des Existenzminimums, sondern vielmehr um eine immer weiter gehende Überdehnung des Existenzmaximums geht.

Willy Brandt machte 1974 Wahlkampf mit dem Slogan „Mehr Demokratie wagen“. Die Ökonomie allerdings ist in ihrem jetzigen Zuschnitt zutiefst antidemokratisch. Das gilt nicht nur für die innerbetrieblichen Strukturen, wo Ansätze von Mitbestimmung eher auf dem Rückzug sind; es gilt vor allem für die Tendenz der Ökonomie, nicht nur Besitz, sondern auch Macht zu konzentrieren, sie also den Vielen zu nehmen und sie den Wenigen zuzuschanzen. Ein Machtgewinn der ökonomischen gegenüber der politischen Sphäre bedeutet auch: weniger Einfluss für Institutionen, die wir mittels Wahlen wenigstens ein bisschen beeinflussen können, mehr Einfluss für antidemokratisch gesinnte Oligarchien, regiert von Vorständen und Aktionärsversammlung, denen bei aller Unterschiedlichkeit eines gemein ist: wir haben sie nicht gewählt. „Mehr Demokratie wagen“ kann also in unseren Zeiten nur eines bedeuten: weniger Ökonomie wagen!

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