Kettensägen und Magnolien

 In FEATURED, Philosophie, Spiritualität, Umwelt/Natur

Vieles im Alltag gleicht dem Lärm ohrenbetäubender Kettensägen, doch jeder kann den Blick für das Hoffnungsvolle schärfen. Teil 2. Sehr viele Menschen glauben an unser gegenwärtiges System. Doch dadurch geben sie sich auch mit allen „Werten“ desselben zufrieden. Wir ackern, schuften und schaufeln uns unser eigenes Grab, statt Blumen zu säen und uns an ihren Blüten zu erfreuen. Dass immer mehr Menschen aufwachen, weil sie die systematische Unterdrückung durch das herrschende System spüren, macht Hoffnung. Darin liegt die Keimzelle für ein künftiges Erwachen. Wir werden den nackten Kaiser unter seinen vermeintlich schönen Kleidern erkennen. Teil 1 dieses Artikels ist hier zu finden. Shabi Alonso

Wie traurig könnte man um die ersten Knospen der Magnolie sein, wenn sie nach den ersten warmen Frühlingstagen plötzlich starken Frost abbekommen und sich davon nicht mehr erholen. Es sollte nicht nur wehmütig stimmen, dass die Blüten der Magnolie ohnehin von kurzer Dauer sind im Vergleich zur sonstigen Pracht der Blüten, Blätter und Früchte um uns herum. Noch betroffener macht mich das verlorene Potenzial der Knospen, deren Leben der Frost genommen hat.

Noch ist Winter. Hoffentlich reicht am Ende der Blick weiter. Ich hole tief Luft, schaue auf und sehe durch das Fenster den nahe gelegenen Baum mit den seltenen Blüten. Gerade jetzt erscheint die Sonne hinter den grauen Wolken und beglückt die noch nackte Krone mit ihren tausend Strahlen.

Haus und Brot!

Werfen wir doch einmal einen Blick auf die Botschaft, die den Fernseh-Zuschauern in manchen Interviews vermittelt wird, beispielsweise in einem Interview mit Professor Hans-Werner Sinn auf dem Online-Kanal „Jung und Naiv“ um Tilo Jung. Mir fiel es schwer, das knapp zweistündige Interview gleich im ersten Anlauf komplett zu schauen. Am nächsten Tag klickte ich die Aufzeichnung des jungen, naiven Vorzeigeschülers aus Berlin-Mitte wieder an und schaute eine weitere Viertelstunde mit meiner Freundin. Sie reagierte auf das Interview ähnlich wie ich. Bei meiner Reaktion versuche ich, mir bewusst zu machen, dass sie aus meinem ganz privaten Echoraum stammt, und die Bewertung nicht zu verallgemeinern.

Nun, am Ende entscheidet jeder Zuschauer selbst, ob es seine Zeit wert ist, diesem Menschen zuzuhören. Ich kann es nicht und werde es vorerst wohl nicht tun. Dennoch bin ich dankbar dafür, dass „mächtige“ Menschen mit dem jungen Interviewer reden. Genauso wie ich anderen Online-Portalen, wie zum Beispiel KenFM um jedes Interview dankbar bin, obwohl der Vergleich hinkt, da ich um ein Vielfaches mehr an Gesprächen mit Ken Jebsen sah als mit Tilo Jung. Michael Lüders und zweimal Richard David Precht sind meine Ausbeute beim Online-Kanal „Jung und Naiv“. Dennoch möchte ich keine Partei für irgend einen Kanalergreifen. Wichtiger als die Debatte um das bessere Online-Medium, die ich für völlig unwichtig erachte, ist die Tatsache, dass Sinn, Professor an der Universität Luzern, scheinbar wenig oder gar nichts von Jean Ziegler gelesen hat.

Zunächst einmal möchte ich beleuchten, weshalb das Interview auf mich ähnlich verstörend wirkte wie das Kettensägen-Massaker im Film „The Texas Chainsaw Massacre“.

Sinn machte Karriere als Wirtschaftsforscher und Pionier der neuen sogenannten sozialen Marktwirtschaft und erweist sich mit seinen Äußerungen auch als Neoliberaler. In ärmlichen Verhältnissen sei er aufgewachsen und sinngemäß als Sozialist und 1968er habe er sich auf den Weg gemacht, um den Kapitalismus zu retten. Er äußert sich dann relativ schnell über das politisch Gegenwärtige, also um Geringverdiener als bereits Verdammte und um reiche Bruttoverdiener mit mehr vom Netto, da der Staat von ihren Steuern im Verlauf der letzten Jahre immer weniger einbehält. Es geht um die Verneinung der Symbiose von Wohlstand und Würde und stattdessen um das Entweder-Oder-Dogma des „großen, weißen, weiß-bärtigen Mannes“. Der Satz darf blasphemisch verstanden werden.

Das Haus und Brot, was sich jeder verdiene, sei mit Schweiß und Gulasch erworben, so in etwa Professor Sinn. Er benutzte an zwei Stellen zu besonders interessanten Fragen ähnliche Redewendungen, die vermutlich dem Alltag germanischer Viehtreiber entstammen. Es zeugt wohl von zu langer Lektüre eines Arthur Schopenhauer, um so künstlich Recht zu behalten, wenn einem nichts Sinnvolles mehr einfällt.

Ich kenne weder Hans-Werner Sinn noch Tilo Jung persönlich. Ich beschreibe nur das Gefühl, das sie mit ihren Worten bei mir erzeugen. Zur Erklärung möchte ich noch einige kurze Fakten nennen, die mich zu diesem emotionsgeladenen Text veranlassten. Sinn lehnt das Grundeinkommen ab. Das überrascht nicht. Dennoch sollten sich diejenigen, die vermögend und trotzdem dem Neid verfallen sind, fragen, ob in einem hocheffizienten, post-maschinellen sowie neo-digitalen Zeitalter eine solche gesellschaftliche Sozialmaßnahme nicht allen Menschen zugute käme.

Die bisherigen Gewinner des Systems müssten dann nicht ständig den „Mob da unten“ fürchten. Das Grundeinkommen käme am meisten den ärmeren Bevölkerungsschichten zugute, da die Menschen sich seltener in prekäre Arbeitsverhältnisse zwängen ließen. Jeder Mensch würde vor allem per se nicht mehr nach dem bewertet, was er „schafft“ und damit „hat“, sondern wer er „ist“.

Zudem stellt sich bei den jahrzehntelangen Effizienzsteigerungen unserer wirtschaftlichen Produktivität auch die rhetorische Frage: Ist ein überwältigender Großteil der von Menschen verrichteten Arbeit nicht einfach nur noch Arbeitsbeschaffungsmaßnahme und in wenigen Jahren ohnehin nicht mehr gefragt?

Jedoch ist das Streben nach Glück im Konsum aktuell der Status quo. Dafür gehen Menschen dann arbeiten und lassen sich „weich“ ausbeuten mit Produkten, für die wiederum andere Menschen „hart“ ausgebeutet wurden. Ein bedingungsloses Grundeinkommen geriete in Konflikt mit unserem gegenwärtigen Konsumwahn.

Gerade Menschen, die jede Woche 60 bis 70 Stunden arbeiten und sich privat nur noch mit einstudierten Maßnahmen erholen, könnten einen Spiegel vorgehalten bekommen. Es gäbe mit Sicherheit viele Menschen, die durch kleine Zusatzjobs wunderbar viel Zeit für das Leben übrig hätten. Die Wahrnehmung der Arbeit und des Lebens würde sich gesamtgesellschaftlich verändern. Nur leider machen solche Umwälzungen, deren Folgen nicht vorhersehbar sind, den meisten Menschen Angst — was dann in Erinnerung bleibt, ist die Neid-Debatte.

Logischerweise sprach sich Sinn auch gegen den derzeit geltenden Mindestlohn aus. Dieser entspricht als Kleinstmenge pro Stunde sowieso eher einem Spuck auf den Schuh, bevor der Schuhputzer am nächsten Straßeneck ihn wieder blitzblank aufpolieren soll. Aber nun gut, reden wir von den circa 40 Reichen, die im bevölkerungsreichsten Land in Europa soviel besitzen wie die gesamte, ärmere Hälfte der Einwohner Deutschlands, also knapp 40 Millionen.

Also besitzen zwei Großfamilien soviel wie ganz Berlin, Hamburg mitsamt Billstedt und Mümmelmannsberg, Kassel samt Baunatal, München „samt Bayern“ und Uli Hoeneß, Frankfurt am Main, Langen, Offenbach, Darmstadt bis hin zur Bergstraße und Mannheim, wenn wir schon mal dort sind, geht es weiter mit Wiesbaden, Mainz, den Rhein entlang bis Köln und vielleicht auch noch das Rhein-Ruhr-Gebiet inklusive aller „bösen“ Araber-Clans, aller Zigeuner und „schmarotzender“ Flüchtlinge und Ausländer.

Herr Sinn sieht in diesem krassen Bild nur das Zeichen eines funktionierenden Systems. Der Unterschied sind die Nullen. Zum Thema Armut äußerte Sinn, dass bloß die osteuropäischen Banden in den Städten um Geld betteln, die Deutschstämmigen fielen gar nicht so auf. Ich frage mich, ob ich mal eine Liste mit allen „Peters, Birgits, Volkers oder Renates“ erstellen soll, die an bitterkalten Nächten ein Loblied für ein wenig warmes Wasser aus der eigenen Leitung singen würden. Auch wenn für mich die Gedanken des Wirtschaftsprofessors keinen Sinn machen und meine Überlegungen sich von seinen fundamental unterscheiden, versuche ich zu vermeiden, ihn zu (m)einem Feind zu erklären.

Die reichsten Unternehmer und Kapitalisten dieser Welt sind eigentlich nur in der Hinsicht elitär, weil sie auf unmenschliche Weise Vermögen anhäufen und sich, trotz des indirekten Raubzugs an den Hungernden der Welt, als Philanthropen fühlen.

Jede einzelne Person in diesem elitären Kreis hat sich sein derzeitiges Leben verdient. Verdient in dem Sinne, weil wir es diesen Menschen ermöglichen, ihr Leben auf diese doch im Kern verdorbene Weise zu führen. Mit jedem Augenblick, in dem wir bereit sind, noch so marginale Widrigkeiten in unserer Gesellschaft hinzunehmen, akzeptieren wir die Doktrin und letztlich den Reichtum weniger Menschen.

Narziß und Edelmut

Unsere Gesellschaft braucht ganz andere Ideale, um zu wachsen und aufzublühen: ein edelmütiges Bewusstsein wäre etwas. Den Zusammenschluss friedvoller Menschen sollte der Glauben an die eigene Bereitschaft zur Aufopferung stärken. Der Begriff edelmütig könnte in seinem tieferen Sinn von Buddha, Mohammed, Jesus oder Moses stammen. Auch wenn mir das als Jemand, der nicht religiös ist egal ist, sollten sich gerade die gläubigsten Buddhisten, Muslime, Christen oder Hebräer darüber Gedanken machen.

Edelmütig zu sein, bedeutet das Leben in seiner Besonderheit erkannt zu haben und sich dafür aufzuopfern. Es bedeutet, dass man gerade erwacht, erwacht ist oder bestrebt ist, irgendwann zu erwachen. Es bedeutet also, dass man anfängt das Leben zu leben und nicht mehr bloß zu erleben. Ein edelmütiger und damit wohltätiger, gemeinnütziger, gütiger, nachsichtiger, milder und aufopfernder Mensch nimmt persönliche Nachteile in Kauf, um seinen Geschwistern im Geiste und damit auch sich selbst etwas Positives anstelle eines negativen Status quo zu ermöglichen. Aufopferung geht dabei nicht zwangsläufig mit Märtyrertum einher, sondern mit persönlichen Widrigkeiten, um dadurch negative in positive Gegenwart zu verwandeln.

„Weiter dachte Goldmund: ein Geheimnis ist es, das ich liebe, dem ich auf der Spur bin, das ich mehrmals habe aufblitzen sehen […]. Es ist die Gestalt der großen Gebärerin, der Urmutter, und ihr Geheimnis […] besteht darin, daß die größten Gegensätze der Welt, die sonst unvereinbar sind, in dieser Gestalt Frieden geschlossen haben und beisammenwohnen: Geburt und Tod, Güte und Grausamkeit, Leben und Vernichtung“ (aus „Narziß und Goldmund“ von Hermann Hesse).

Echte Intelligenz statt künstlicher Bildung

Um den Zustand zu beschreiben, in dem sich viele Menschen in unserer Gesellschaft befinden, greife ich auf den Hirnforscher Prof. Manfred Spitzer zurück. Er hat einen Großteil seines Lebens darauf verwendet, die Wechselwirkung zwischen Bildschirmzeit und Psyche zu erforschen. Von ihm stammen die Worte: Digitale Demenz und Cyberkrankheit. Sind wir nicht alle ein wenig verrückt geworden? Wie hat sich unser Leben plötzlich verändert. Wir kommunizieren anders, wir reichen weiter, ob privat oder öffentlich. Reichweite weltweit ist ein Touch, also eine kleine Berührung entfernt.

Und im Grunde stellt sich hier die Frage nach der Besonderheit unserer Spezies auf diesem Planeten. Wie selten zuvor verändert sich unser gesamtgesellschaftliches Wesen, unsere gedanklichen und emotionalen Gaben nutzen wir intuitiv eher für kurze Spannungsspitzen. In unseren Breitengraden fragen wir uns seltener als je zuvor, ob unsere Sichtweise noch geistreicher Weitsicht entspricht. Das stillschweigende Eingeständnis folgt prompt: Wir werden mit jedem Tag kurzsichtiger.

Stattdessen denken wir über die Medienkompetenz unserer Kinder nach. Diese lernen sie in der Schule, von Lehrern, denen der Ruf als Meister so manches Videorekorders vorauseilt. Wer in dem bisher beschriebenen Gesellschaftsgeist über Medienkompetenz nachdenkt, meint in allererster Linie eine Erziehungsmaßnahme. So soll es gelingen, die verkommene, politische Landschaft noch einigen weiteren Generationen schmackhaft zu machen. Andere leben in Filterblasen und orientieren sich an falschen Fakten, wir sind da natürlich die Ausnahme. Und zu allem Übel ist das letzte bisschen Privatsphäre schon längst verspielt.

Wann ziehen wir den Stecker? Wann entziehen wir fremden Informationen ihre Allmacht? Wie ist es möglich in der Langeweile des Daseins nicht nur durch Film und Fernsehen das Leben eines Anderen zu leben, sondern selbst wirksam zu werden? Worauf möchte ich wirken und vor allem, was möchte ich bewirken? Ist Herrschaft über andere ein edelmütiges Ziel, um mich von der eigenen Zivilcourage loszureißen? Unabhängig von der politischen Agenda, der wir mehr oder weniger alle unterworfen sind, ist evolutionäres Gedankengut mehr denn je ein geeignetes Mittel, um als Mensch zu existieren. Sollte es nicht darum gehen, in uns hinein zu horchen? Was macht uns aus? Was wollen wir der Welt als eigenes Echo vermachen?

Evolution ohne Revolution

Wenn wir uns verändern, verändern wir die Welt. Manch einer wird dabei an Gandhi denken, manch einer an etwas Anderes. Aber die wenigsten denken dabei an sich, obwohl der Satz im Kern eine Selbstkritik darstellt. Viele denken vielleicht an sich, aber der Gedanke und das Gefühl dringen nicht durch die eigene Oberfläche. Als evolutionäres Gedankengut bezeichne ich all das, was uns das Fortleben in Harmonie mit der Welt und uns selbst ermöglicht. Das bedeutet eben nicht, sich von dem bisherigen Werdegang zu entkoppeln, jedoch auch nicht schweigend mitzumachen — aus Angst vor Verlusten und Opfern.

Wenn Menschen in einer klassischen Revolution Mauern niederreißen, mit Feuer und Mistgabeln Aggressionen verbreiten, kann eine Umwälzung zwar stattfinden. Aber das Opfer werden sie immer selbst sein, da sie damit die vorher verkündeten, freiheitlichen Prinzipien verraten und sich letztlich selbst hintergangen haben.

Wir haben den Markt erschaffen, um Handel zu treiben, so weit so gut. Auf dem Markt, dem Basar handeln wir heute alle Arten von Waren. Was ist der eigentliche Sinn der Waren und Dienstleistungen für uns? Sichern sie uns immer noch unser Überleben oder sind sie bereits zu einem Großteil dazu mutiert, unsere eigene Einfältigkeit zu überdecken? Evolution setzt ein neues Bewusstsein voraus, keine Unterordnung unter die Dinge, sondern eine grundlegende Beherrschung neuer Situationen und komplexer Zusammenhänge. An so einer Schwelle stehen wir. Dafür sind wahre Demut und Wehmut gute Ratgeber, nicht jedoch eine schnelle Dosis Medienkonsum.

Ob beim Lesen, Anschauen oder Zuhören: Jeder, der nicht gerade neben oder vor uns sitzt, ist irreal. Behalten wir die Nähe zu echter Mimik, Gestik und Spannung, dann erlangen wir auch Distanz zu der digitalen Welt und können mit ihr morgen sowie übermorgen auskommen, ohne dabei selbst verloren zu gehen.

 

„Wie Blüten gehn Gedanken auf,
Hundert an jedem Tag —
Laß blühen! laß dem Ding den Lauf!
Frag nicht nach dem Ertrag!

Es muß auch Spiel und Unschuld sein
Und Blütenüberfluß,
Sonst wär die Welt uns viel zu klein
Und Leben kein Genuß“

(aus „Voll Blüten“ von Hermann Hesse).

Am Ende bleibt die Hoffnung

Was die hier dargestellten Puzzleteile einer großen, menschlichen Herausforderung betreffen, so sind die Gedanken ein Augenblick im Leben eines Menschen. Das ist der größtmögliche Aufwind, den ich mitgeben kann. Mehr nicht und doch sollte — bei all den uns erschlagenden Nachrichten und Botschaften beziehungsweise Weisungen auf dieser Welt — die Aussicht auf Liebe und Geborgenheit in und um uns Mut machen. Auch das mag pauschal und zu platt klingen. Doch vermutlich nur in den Ohren derjenigen, die sich an das Schwarzweiß der sogenannten öffentlichen Meinung gewöhnt haben. Im Übrigen begegnet uns diese Meinung zwar im öffentlichen Raum, jedoch repräsentiert nie die Mehrheit der gesamten Öffentlichkeit.

Was die Grundproblematik der Massenmedien betrifft, so sollten wir nach den Blüten Ausschau halten. Wann immer wir an eine Kettensäge erinnert werden, sei es in einer Werbeeinblendung, einem Film, einem Video, einer Musikdatei oder in einer anderen Show. Da ist die Frage angebracht: Muss ich derartiges jeden Tag, jede Stunde und Jahr für Jahr sehen? Wenn wir uns dazu aber doch die Zeit nehmen, vergessen wir nicht die Blüten der Gegenwart.

Auf der Welt werden Menschen in Gefängnissen gefoltert, weil sie uns einen ehrlichen Einblick in die derzeitigen Kriege gegeben haben. Andere Meister derselben Klasse erläutern uns, unser gegenwärtiges System sei wasserdicht, ohne das wir ein unbedeutendes Wesen, ein Parasit wären. Es ist lustig, dass die allmächtige Lehre des Geldes ein Wertesystem ist, das uns Menschen jeden Selbstwert genommen zu haben scheint.

Wie viel sind wir uns für das Leben selbst wert? Was bin ich mir selbst wert in einem gesellschaftlichen System, in dem mir ein vermeintlicher Wert diktiert wird?

„Alle Tage rauscht die Fülle der Welt an uns vorüber; alle Tage blühen Blumen, strahlt das Licht, lacht die Freude. Manchmal trinken wir uns daran dankbar satt, manchmal sind wir zu müde und verdrießlich und mögen nichts davon wissen; immer aber umgibt uns ein Überfluß des Schönen. Das ist das Herrliche an jeder Freude, daß sie unverdient kommt und niemals käuflich ist; sie ist frei und ein Gottesgeschenk für jedermann, wie der wehende Duft der Lindenblüte“

(aus „Lindenblüte“ von Hermann Hesse, Erstdruck 1907 im Wiener Tagblatt).

Verschenkter Glaube

Enorm viele Menschen glauben an unser gegenwärtiges System. Manchmal erkläre ich mir dieses Vertrauen damit, dass wir alle während unserer Kindheit und Jugend so entwertet wurden. Dadurch geben wir uns mit jedweden Gegenwerten des Systems zufrieden. Wir ackern, schuften und schaufeln uns unser eigenes Grab statt Blumen zu säen.

Dann versuche ich, die eingeschworenen Kapitalisten zu verstehen. Ich vermute, diese Menschen haben einen so hohen Bedarf, ihr Selbstwert über unser Wertesystem auszugleichen, dass sie die Besten und Genialsten in ihrem Fach werden. Um sie besser verstehen zu können, wollte ich die Printmedien dieser elitären Lemminge lesen. So griff ich zur Ausgabe des „Capital“ vom Dezember 2019. Der Untertitel lautete: „Wirtschaft ist Gesellschaft.“ Was ich erstaunlich fand, war die Bandbreite der Artikel, die Pleiten, Beinahe-Pleiten und Insolvenzverfahren zum Inhalt hatten.

Ein Beitrag unter dem Titel „Elite-Panel“ enthielt Meinungen von sogenannten Top-Entscheidern aus Wirtschaft, Politik und Verwaltung, anschaulich illustriert mit Grafiken und Prozentsätzen. Für diese Damen und Herren hatte beispielsweise die Automobilindustrie im Vergleich zu anderen Faktoren wie dem Brexit nur einen sehr geringen Einfluss auf die sinkende Konjunktur.

Schließlich entdecke ich eine Kolumne des ehemaligen Chefredakteurs des Handelsblatts, Bernd Ziesemer. Im letzten Absatz steht ein richtig guter Satz: „Sprache ist die Wirklichkeit des Denkens.“ Es ist ein Zitat. Ziesemer zitiert Ludwig Wittgenstein. Das machte mich kurzzeitig fassungslos. Dass ein Top-Ökonom einen Philosophen zitiert, hinterlässt bei mir ein mulmiges Gefühl. Ist dieser Satz nicht genauso präzise auf die Philosophie des gesamten Magazins anwendbar? Ist das Zitat nicht auch passend für die Agenda aller elitären Neoliberalen und „Konform“-Kapitalisten? Vermutlich ja!

Und so erkenne ich, dass alle kritischen Bewertungen in einem anderen Kontext auf Rubikon anwendbar wären oder andere alternative Medien. Immer dann, wenn jemand ein Thema von einem anderen Ideal aus bewertet. Vielleicht ist das ein Hinweis auf einen stets kritischen, also klassischen Journalismus. Insbesondere in Richtung der Zetsches, Bezos‘, Ziesemers, Ackermanns und Sinns dieser Welt möchte ich eine Antwort geben, damit auch bei identischen Zitaten und überschneidenden Meinungen der Unterschied klar wird: Er liegt in der Ethik. Der Unterschied ist die Moralphilosophie, deren Inhalt das sittliche Verhalten des Menschen ist, und die alternative Medien fast ausnahmslos bei Themen rund um Politik und Wirtschaft als zusätzlichen Maßstab anwenden.

Genau in dieser vermeintlichen Nuance liegt meine persönliche Hoffnung. Dass wir Menschen in immer größerer Schar aufwachen, weil wir durch die systematische Unterdrückung zurück zu einer mitfühlenden Moral finden. Dann besteht wahrhaftige Hoffnung, dass wir uns aus der auslaugenden Einfalt losreißen.

„Nein. Wir sind nicht frei. Mit Kaffee am Morgen fängt es an und mit Schlägen, wenn man ein Affe ist, und die Tränen der Mutter salzen den Kindern die Mahlzeit, und ihr Schweiß wäscht ihnen das Hemd, und man ist gesichert bis in die Eiszeit, und die Wurzel sitzt im Herz. Und ist er ausgewachsen und will etwas tun mit Haut und Haar, dann ist er bezahlt, eingeweiht, abgestempelt, verkauft zu hohem Preis, und er hat nicht einmal die Freiheit unterzugehen“ (aus dem Drama „Im Dickicht der Städte“ von Bertolt Brecht, Uraufführung vor 97 Jahren).

Hoffnungen einer Zimmerpflanze

Ich gebe euch ein zuhaus´,
doch von Natur aus
müsstet ihr raus.
vielleicht ich auch.

weniger eingesperrt,
das wäre nicht verkehrt,
denn von euch wurde ich gelehrt,
von euch werde ich genährt.

In der Sonne wir doch lachen,
im Regen endlich erwachen,
im Winde uns alle berühren,
im Mondschein unsere Gedanken dann ruhen.

gebet mir ein zuhaus‘,
denn von Natur aus,
müsste ich raus,
vielleicht ihr auch
(vom Autor).

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